Irgendwas war schief gelaufen. Das hatte Karl im Gefühl. Er lief die schmale Gasse noch einmal auf und ab, schaute dann auf seine Armbanduhr. Hannes hatte sich schon über eine Stunde verspätet. Da blitzten wieder Scheinwerfer auf. Karl beschleunigte seinen Schritt, doch als er am Anfang der Gasse angelangt war, war das Auto schon weitergefahren.
„So ein Mist“, fluchte Karl und trat die Zigarette auf dem Fußboden aus. Es war kurz vor Mitternacht. Die meisten Leute waren in ihrer Wohnung, viele schliefen bereits. Schließlich war morgen Montag und die Berufstätigen mussten früh aufstehen. Genau deshalb hatten sie diese Uhrzeit für die Übergabe gewählt. Ungeduldig zog Karl sein Handy aus der Tasche. Wieder keine Nachricht. Das kontrollierte er inzwischen im fünf Minuten Takt. Ob sie Hannes erwischt hatten, überlegte Karl, schüttelte dann den Kopf. Das hätte er erfahren. Sie hatten vor der Fahrt vereinbart, dass Hannes in diesem Fall nur auf den „Notruf“ drückte, der dann automatisch auf Karls Handy geleitet würde. Was aber, wenn Hannes keine Gelegenheit dazu hatte? Karl lief wieder auf und ab. Dass der Plan schief gehen würde, daran hatten sie eigentlich keinen Gedanken verschwendet und somit auch keine Vorsorge getroffen. Leise fluchte Karl vor sich hin. Am liebsten hätte er laut randaliert, doch das hätte alle Anwohner aufgeweckt. Seinen Impuls, Hannes eine Mitteilung zu schicken, unterdrückte er geflissentlich. Wieder leuchteten Scheinwerfer in die Gasse. Diesmal schien das Auto auch in die schmale Straße einzubiegen. Das Auto parkte.
Karl, der komplett schwarz gekleidet war, versteckte sich unter dem kleinen Vordach der Eingangstür eines der vielen Reihenhäuser. Das Auto parkte am Seitenrand. Ein Ehepaar stieg aus. Karl atmete tief durch. Hoffentlich wohnten sie nicht hier. Schnell überlegte er sich eine Ausrede. Doch das Ehepaar blieb an der Haustüre zwei Häuser weiter vorne stehen. Während die Frau die Haustüre aufsperrte, balancierte der Mann einen größeren Karton, der sich bewegte. Den Eindruck hatte Karl von der Ferne aus. „Wirf den Karton nicht hinunter“, flüsterte die Frau. Dass er nicht bescheuert sei oder Ähnliches entgegnete der Mann genervt, als sich der Karton wieder bewegte. Besser gesagt, das Innenleben des Kartons. Irgendwann hatte es die Frau geschafft, die Haustüre aufzusperren. Das Ehepaar schaltete Licht an und trat ein. Offensichtlich hatten sie gleich darauf den Karton geöffnet und zumindest die Frau war über den Inhalt nicht begeistert, wie deren lauter Schrei kurz darauf vermuten ließ. Die Tür ging wieder auf, der Mann warf ein dachsgroßes Tier mit langem Schwanz hinaus in den kleinen Vorgarten.
Kurz darauf öffnete die Frau die Fenster im Haus. „Ich habe dir gleich gesagt, es ist das falsche Paket. Doch du weißt alles besser. Das hast du nun davon. Ich will nur eins wissen: Wo sind meine Pelzmäntel?“, brüllte die Frau ihren Mann an. Karl wusste nicht, wohin er zuerst schauen sollte. Zum Fenster im oberen Stockwerk, wo sich das Ehepaar nun aufhielt. Allerdings bei geschlossenem Fenster oder zum Vorgarten, wo sich das schwarze Tier mit dem weißen Streifen schnell bewegte, auf der Suche nach einem geeigneten Versteck oder nach dem besten Fluchtweg. Karls Handy klingelte. Er zog es aus der Tasche. Es war Hannes. „Bin in drei Minuten da. Bereite alles vor“, las Karl, während er zu seinem am Ende der Gasse geparktem Auto lief und den Kofferraum öffnete.
Wenn Hannes hier ankam, musste es schnell gehen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Kunde vorgestern hatte zu intensiv die Tiere in Karls Tierhandlung angeschaut und versucht, sich unauffällig nach ein paar Exoten zu erkundigen. Doch Karl tat, als hätte er diese Tiere nicht und er beteuerte, daran nicht einmal zu denken. Das sei illegal. Karl grinste. Wer ihn kannte, wusste, dass er sich dieses immer mehr boomende Geschäft mit dem Handel der Exoten nicht entgehen ließ. Allerdings nur an „sichere“ Kunden, wie Hannes das nannte. Jetzt war er über eine Stunde zu spät, da hätte er durchaus noch eine Viertelstunde dran hängen können, fluchte Karl, der in dem flüchtenden Tier inzwischen ein Stinktier erkannt hatte. Eins von der kleineren Sorte. Konkurrenz also, dachte Karl, der bedauerte, keinen Blick auf das Klingelschild des Ehepaars geworfen zu haben. Wer weiß, wie viele Exoten sie noch in dem Karton hatten. Keine Großtiere, aber ein paar Skunks oder Schlangen. Die waren momentan auch besonders begehrt.
Halt, doch keine Konkurrenz, fiel Karl ein. Die Frau schrie irgendwas von Pelzmänteln. Die Lieferung war vertauscht worden. Na hoffentlich brachte Hannes keine Pelzmäntel statt der Exoten mit. Allerdings könnte man dann tauschen, beruhigte sich Karl. Kurz darauf bog Hannes in die Gasse, stieg aus und lief zum Kofferraum, um den großen Karton in Karls Kofferraum zu laden. „Bist du sicher, dass es der richtige Karton ist“, fragte Karl. „Warum sollte es nicht der richtige sein. Das ist der Karton, den mir Schorsch gegeben hat“, antwortete Hannes. „Anscheinend handelt er nicht nur mit Exoten. Das Paar da vorne hat wohl auch eine Lieferung erhalten. Mit Exoten. Da war ein Stinktier dabei, das die Frau gleich aus dem Haus geworfen hat. Sie hatten wohl Pelzmäntel gekauft“, erklärte Karl. Hannes zuckte die Schultern, als Karl an den Karton klopfte. Es bewegte sich nichts. „Ein paar Mambas wiegen doch nicht so viel“, meinte Karl dann ein wenig verunsichert und rüttelte an dem Karton. Ein knurrender Laut war zu hören.
Die beiden Männer sahen sich an. „Bring das zurück“, meinte Karl. Hannes schüttelte den Kopf. „So ein Unsinn. Das wird dein Magen gewesen sein“, sagte Hannes und schüttelte den Karton ebenfalls. Es klang als würde jemand kichern. „Bring das zurück“, wiederholte Karl. Hannes tippte mit dem Finger an die Stirn. „Was soll der Quatsch. Öffne den Karton, wenn du nicht glaubst, dass Mambas drin sind. Wer weiß, wen oder was du gehört hast.“ Karl überlegte. „Ich werde das nicht öffnen. Heute muss etwas schief gelaufen sein. Warum bis du so spät dran“, fragte Karl. „Weil er den Karton nicht gleich gefunden hatte“, sagte Hannes. „Eben. Er hat sämtliche Lieferungen verwechselt. Deshalb nehme ich das nicht mit. In dem Karton hat es geknurrt. Das sind keine Mambas. Das sind viel exotischere Tiere. Am Ende ist ein Tigerbaby drin oder ein Pumajunges. Ich öffne das nicht und ich nehme das nicht mit in mein Geschäft“, meinte Karl Nun klopfte Hannes noch einmal gegen den Karton. Es blieb ruhig. Er klopfte erneut. Etwas krachte. Hannes zog ein Messer aus seiner Tasche, schnitt den Karton auf, als ihn ein Tiger ins Gesicht sprang. Erschrocken schrie Hannes auf. Karl brach in Lachen aus. „Scherzartikel“ stand auf den Karton im Karton, aus dem sich ein federnder Tiger gelöst hatte und aus der Schachtel schnellte. „Bringen wir es zurück. Das ist mir zu exotisch“, lachte Karl.