Osterei gesucht

Schokohasen in Miniaturform, Ostereier in sämtlichen Größen und Geschmacksvarianten lagen in dem Korb, mit dem Nikolaus durch den Park in ein eher unbeachtetes Waldstück lief. Natürlich musste Antonia, die Verkäuferin des Sportgeschäfts, gerade jetzt ausgerechnet hier ihre Joggingrunde drehen. „Nikolaus versteckt die Ostereier“, rief sie ihm süffisant zu. „Ha, sehr lustig“, murmelte Nikolaus und lief weiter, den Korb unauffällig hinter dem Rücken und dann seitlich haltend, damit ihn niemand sah. Auf solche Witze hatte er keine Lust. Doch er wollte seinem Patenkind eine Freude bereiten und ihr den Spaziergang versüßen. Wie viele Kinder quengelte auch Emilia, wenn sie mit den Eltern spazieren gehen musste. Er und sein Bruder Kilian, Emilias Vater, hatten diese sonntäglichen Spaziergänge ebenfalls gehasst. Bis auf den Osterspaziergang. Da fanden sie alle paar Meter ein paar Schokoeier in der Wiese liegen. Nikolaus und Kilian liefen dann nicht mehr in fünf Meter Abstand hinter den Eltern, sondern rannten Meilen voraus, um alles Osterüberraschungen zu finden.

Daran hatte sich Nikolaus erinnert und wollte deshalb auch Emilia damit eine Freude bereiten. Den kleinen Schokohasen folgend würden sie über den Park zu einer kleinen Lichtung kommen. Dort hatte Nikolaus Emilias Osternest versteckt. In seiner Zwei-Zimmer-Wohnung fand er kein gutes Versteck und die Suche in der Natur zu verbringen, betrachtete Nikolaus als geeigneter für ein kleines Kind. Damit er sichergehen konnte, dass die Schokoeier niemand vorher fand, hatte er eine abgelegene Route ausgewählt, die er nun, wenige Minuten vor Kilians und Emilias Besuch ablief und alles vorbereitete. Zugleich wollte er seinem Bruder damit helfen, das Osterfest für Emilia zu einem unvergesslichen Erlebnis zu gestalten. Kilian hatte an der Trennung von seiner Frau noch zu knabbern und Emilia, die dieses Wochenende bei ihrem Vater verbrachte, sollte nur schöne Erinnerungen haben.

Voll Vorfreude legte Kilian die kleinen Schokoüberraschungen ins Gras, formte so den Weg zur Lichtung. Dort am Rande lag eine große ausgegrabene Wurzel, deren viele Verwachsungen ideale Verstecke für das Osternest boten. Dort versteckte Nikolaus das Nest so, dass ein rot gefärbtes Ei hervor spitzte und dem Mädchen einen Hinweis liefern konnte. Zwischen dem schokoladenen Inhalt hatte er eine Tonie Hörfigur gelegt. Zufrieden rieb sich Nikolaus die Hände und lief zurück. Sein Bruder Kilian wollte zu der Zeit schon am Park angekommen sein. So gingen sie sicher, dass kein Fremder diese schöne Überraschung vor Emilia fand.

„Bist du sicher, dass der Osterhase hier ein Nest versteckt hat“, fragte Emilia neugierig, wartete die Antwort jedoch nicht ab, weil sie wieder ein Schokoladenei in der Wiese gefunden hat. „Schau“, rief das Mädchen begeistert und hielt ein gelbes Ei in die Luft. Nikolaus winkte seinem Patenkind zu. „Ob sie sich daran gewöhnt hat, dass ich nicht mehr bei ihnen lebe, weiß ich nicht. Aber sie weint nicht mehr und scheint sich damit abgefunden zu haben. Kinder gewöhnen sich schnell an neue Situationen“, meinte Kilian. Ob er sich das nicht einredete, überlegte Nikolaus, der nur zustimmend nickte. „Sie geht immerhin wieder problemlos in den Kindergarten. Vorher hatte sie sich geweigert. Nur wenn Papa wieder da wohnt, sagte sie immer.“

Kilian fiel die Trennung schwer, wusste Nikolaus. Emilia rief wieder irgendwas und hielt ein in blauer Folie eingewickeltes Schokoei in die Luft. Wie ein Wirbelwind fegte sie über die Wiese, von einer Seite zur anderen, um keine der Schokofiguren zu übersehen. „Emilia scheint wirklich gut drauf zu sein“, meinte Nikolaus und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Das war natürlich genau das, was sein Bruder hören wollte. „Ich meine, sie freut sich, das Osterwochenende mit dir verbringen zu dürfen“, fügte Nikolaus an, um den mit Worten angerichteten Schaden zu begrenzen.

Inzwischen waren sie an der kleinen Lichtung angelangt. Antonia joggte vorbei, lief ihre Runde zurück. „Hallo Nikolaus“, rief Antonia süffisant und winkte. Das hatte Emilia gehört. „Lebt der Nikolaus auch hier“, fragte das Mädchen mit einem hoffnungsvollen Blick, wie Nikolaus erkannte. „Natürlich“, meinte er deshalb zuversichtlich. Emilia lief weiter, suchte das Osternest und da es außer der Wurzel keine Versteckmöglichkeiten gab, ging Emilia recht zielstrebig auf die Wurzel zu. „Hier ist ein Nest“, rief das Mädchen aufgeregt und begutachtete den Inhalt. Sie drehte sich um, schaute zu ihrem Vater und zu Nikolaus, drehte sich wieder zum Nest und schien zu überlegen.

„Ist das lange haltbar? So lange bis der Nikolaus kommt“, rief Emilia. „Klar“, bejahte Kilian. „Möchtest wohl ein Osterei für den Nikolaus aufheben?“ Emilia nickte, kramte mit den kleinen Händen eifrig in der Jackentasche und beförderte einen Brief ans Tageslicht. Den legte sie ins Nest, nachdem sie die Hörfigur aus dem Nest genommen hat. Dann hüpfte sie auf der Wiese, langte wieder in ihre Jackentasche, holte ein Schokoei hervor und aß es. „Möchtest du das Nest nicht mitnehmen“, fragte Kilian. Emilia schüttelte den Kopf. Nikolaus war völlig aus dem Konzept gebracht, deutete seinem Bruder an, die Kleine abzulenken. Nikolaus schlich sich zum Nest, fischte den Brief heraus und öffnete ihn. Eine Seite war vollgekritzelt, mit Strichen, Wellen und Linien. Was hatte er erwartet? Das Kind war fünf.

„Warum willst du das Nest nicht mitnehmen? Der Osterhase hat es extra für dich versteckt“, fragte nun Nikolaus. „Aber das ist für den Nikolaus, der den Brief ans Christkind weitergibt“, sagte Emilia. „Was steht in dem Brief?“, fragte Nikolaus. „Das darf man nicht sagen, weil es sonst nicht in Erfüllung geht“, antwortete Emilia. „Ja, klar. Da hast du recht“, murmelte Nikolaus. „Es wäre trotzdem gut, wenn du mir das sagst, denn vielleicht kann der Nikolaus den Brief nicht lesen“, versuchte es Nikolaus noch einmal. „Doch, der kann sogar chinesisch“, sagte Emilia. „Vielleicht wird der Brief gestohlen. Dann wäre es gut, wenn ich dem Nikolaus sagen könnte, was in dem Brief steht“, erklärte Nikolaus. „Das macht auch nichts. Der Nikolaus weiß es auch so“, bekräftigte Emilia. Die beiden Männer schauten sich betreten an. Sie ahnten den Wunsch des Mädchens, konnten ihn aber nicht erfüllen. Ein unvergessliches Osternest zu schaffen, war gründlich schiefgegangen, entschied Nikolaus und überlegte fieberhaft eine andere Idee, um Emilia ein besonderes Fest zu bereiten. Während die beiden Männer schweigend den Weg von der Lichtung zum Wald und von dort aus zum Park liefen, hüpfte Emilia fröhlich über die Wurzeln und hatte die größte Freude, die Ameisenkolonnen auf dem Waldboden zu beobachten. Kurz vor Nikolaus` Wohnung hatte Emilia die Sprache wieder gefunden. „Das glaubt mir im Kindergarten niemand, dass ich an Ostern den Nikolaus gefunden habe.“

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