Das Fenster

Die grellen Neonlichter erhellten Mathildas Zimmer. Sie lag auf dem Rücken, quer über das Bett. Beinahe wäre sie eingeschlafen, doch ihre Mutter betrat den Raum. „Es ist gleich Mitternacht“, flüsterte Angelika. Mathilda nickte und setzte sich auf. Eigentlich verspürte sie heute keine große Lust, vom Fenster aus die Nachtbummler zu beobachten. Doch sie wollte ihn unbedingt wieder sehen.

Fabi nannten sie ihn. Zuerst dachte Mathilde, es sei die Kurzform für Fabian. Doch er hieß Fabien, wie Mathilde inzwischen wusste. Schon seit Wochen wartete sie Samstag für Samstag, dass er aus der Disco kam. Er war immer mit demselben Freund unterwegs. Der sah auch ganz süß aus, aber er hatte ein direkteres Wesen, redete ohne Umschweife. Fabien hingegen grinste immer, bevor er etwas sagte. Manchmal lächelte er nur zu ihr herauf. Während sich Quirin –so hieß der Freund –gedankenlos verhielt und sich über Mathilde scheinbar lustig machte, wirkte Fabien sehr behutsam und nachdenklich. Er nahm Mathilde ernst, hatte sie das Gefühl. Vor vier Wochen, als er sie das erste Mal am Fenster sah. Erst grinste er zu ihr hoch und sagte ein paar belanglose Dinge über den milden Abend und dass es für ihn und Quirin auch Zeit würde, nach Hause zu gehen.

Das zweite Mal unterhielten sie sich schon länger. Über die Musikrichtungen und welche sie bevorzugte. Ob sie nicht gerne in die Disco ginge, weil er sie dort nie antraf oder ob sie noch zu jung sei, fragte er ein andermal. Mathilde erfand dann immer Geschichten. Dass sie keine Lust hatte, wegzugehen oder dass sie gerade erst nach Hause gekommen war. Dass sie Discos nicht so mochte, den Lärm und die aufgedonnerten Frauen. Dass sie lieber ins Theater ging, erklärte sie. Quirin musste sich das Lachen verkneifen, das erkannte Mathilde selbst vom dritten Stock aus. Aber Fabien war anders. Er lächelte, nickte, meinte Theater sei gut und dass sie sehr vernünftig sei, was einer gewissen Reife bedürfe. Das gefalle ihm, hatte Fabien vor zwei Wochen gesagt. Auch sie gefalle ihm. Ihre Augen würden bis zum Gehweg strahlen und ihre Haare glänzten wie Seide. Sie sei sehr hübsch, hatte Fabien gesagte. Mathilda fühlte sich wie im Himmel und hatte seine Worte und Stimme noch im Ohr als wäre es gestern gewesen.

Die Woche drauf hatte sie vergeblich am Fenster gewartet. Fabien war nicht gekommen. Mathilde sorgte sich, ob er krank war oder ob ihm noch Schlimmeres passiert sei. Oder er hatte sich verliebt und er war mit seiner Flamme im Theater oder im Kino statt in der Disco. Normalerweise schaute Mathilde nur samstags aus dem Fenster. Da war am meisten los. Eher aus Verzweiflung oder in der Hoffnung, Fabien zu sehen, saß sie bereits am Freitag am Fenster und wurde nicht enttäuscht. Oder besser doch, denn Fabien und Quirin folgten zwei junge Mädchen. Sie gehörten zusammen oder hatten sich in der Disco kennengelernt. Jedenfalls lachten sie laut und gingen gemeinsam weg. Trotzdem hatte Fabien zum Fenster hochgeschaut, war sich Mathilde sicher.

Ihr Fenster hatte eine gute Lage. Mathilde brauchte nur ein wenig den Kopf zu beugen, um den ganzen Straßenzug im Blick zu haben. Das Kino mit dem grellen pinkfarbenen Schriftzug und der neongelben Reklame für die Filme, die gerade liefen. In einem intensiven Blau wurde auf das Glücksspielhaus aufmerksam gemacht und auf der Straße gegenüber konnte Mathilde den Eingang der Disco beobachten, selbst wenn sie sich in ihrem Stuhl zurücklehnte, um ungesehen zu bleiben. Manchmal wollte sie das. Jetzt zum Beispiel. Als die schwarze Tür geöffnet wurde, traten zwei junge Frauen heraus. Die eine war Franka, die andere hieß Miriam. Soviel wusste Mathilde inzwischen, denn sie wurde oft angesprochen. Doch Mathilde hatte dieses Mädchen noch nie gesehen. Franka hingegen war oft Kunde in dem kleinen Tabakladen, in dem Mathilde inzwischen beinahe jeden Vormittag aushalf. Die beiden Mädchen schienen sich gut zu amüsieren, denn sie lachten aus vollem Herzen, überlegte Mathilde. Kurz darauf betraten Quirin und Fabien das Freie. Sie schauten sich kurz um und liefen zu den beiden Mädchen. Sie begannen zu streiten. Fabien und diese Miriam, erkannte Mathilde schockiert. Wie hatte sie glauben können, er hätte an ihr Interesse. Triumphierend erkannte Mathilde, dass Fabien zum Fenster geschaut hatte. Er winkte sogar. Scheu hob Mathilde die Hand und bewegte sie ein bisschen hin und her.

„Hey, Mattie, komm doch endlich runter und feiere mit uns“, rief Fabien. Er hätte nichts Schöneres sagen können, dachte Mathilde. Mattie nannte er sie. Das klang so weltmännisch, so erwachsen, so gebildet. Es klang einfach umwerfend. Mathilde überlegte nun auch, wie sie ihn nennen könnte. Doch Franka und Miriam schauten schon interessiert zu Mathildes Fenster, dass Mathilde nicht mehr wusste, was sie eigentlich sagen wollte. Bis sie eine Antwort auf der Zunge hatte, war Fabien verschwunden. Kurz darauf klopfte es an Mathildes Zimmertür. Fabien streckte den Kopf herein. Hastig hantierte Mathilde an ihren Bremsen, um den Rollstuhl zu bewegen. Zu spät. Fabien hatte sie schon gesehen. Er schloss die Augen, lehnte den Kopf an die Tür, drehte sich um und verließ wortlos die Wohnung.

Mathilde beugte ihren Kopf so, dass niemand sie sehen konnte, während sie den Straßenzug beobachtete. Fabien hielt Miriams Hand. Sie schlenderten neben Quirin und Franka die Straße entlang. Leise war Mathildes Mutter ins Zimmer gekommen. Mathilde schluckte die Tränen hinunter. „Du hast recht. Morgen ziehe ich in das andere Zimmer. Es gibt nichts Schöneres, als vom Bett aus einen Blick zum Fenster hinaus zu haben, um einen Sonnenuntergang zu sehen.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert