
Eine wahre Schatzkiste hat Madlen auf dem Dachboden ihre Großmutter gefunden. In der hintersten Ecke hat ihre Oma Briefe und die Tagebücher ihrer Mutter, Madlens Uroma, aufbewahrt. Trotz des Verschlusses lag Staub auf den Heften, deren Inhalte in fein säuberlicher Sütterlinschrift festgehalten waren. Vor allem die Tagebücher ihrer Uroma Katharina interessierten die Jugendliche. Eine moderne Frau, eine Kämpferin für Frieden soll ihre Urgroßmutter gewesen sein.
Auf einer Matratze, die sie als Kinder zum Spielen benutzt hatten, machte es sich Madlen gemütlich und blätterte in den Heften und versuchte die Schrift zu entziffern. „Alle Frauen zeigten keine Regung. Tapfer trugen sie das wenige Hab und Gut, das sie mitnehmen durften, in einem Koffer mit der einen Hand. An der anderen hielten sie ihre kleinen Kinder fest. Ich fror trotz meines Mantels. Es war bitterkalt, obwohl es erst Oktober war. Doch es war die Ungewissheit, die Angst, die in mir alles zu Eis gefrieren ließ. Gerne wollte ich so tapfer sein wie die anderen Frauen. Ich wollte, dass Otto auf mich stolz sein würde, wenn er von der Front zurückkam. Würde er erfahren, dass wir flüchten mussten? Würde er erfahren, wohin es uns verschlagen hat? Würden wir dort, wo immer das auch sein würde, eine neue Heimat finden? Ich blickte mich um. Die anderen Frauen gingen tapfer weiter. Hungrig waren wir alle. Doch das wenige, dass sie hatten, gaben sie ihren kleinen Kindern. Manche weinten. Manche waren verzweifelt. Manche genauso tapfer wie ihre Mütter. Eine junge Mutter schob ihr kleinstes im Kinderwagen, der immer wieder im Matsch stecken blieb. Die alten Frauen und Männer, die sich kaum mehr auf den Beinen halten konnten, durften auf den Wagen sitzen.“ Madlen konnte nicht aufhören zu lesen. Alleine sich vorzustellen, was die Frauen, Männer und Kinder vor und während der Flucht erdulden mussten. Immer dabei, die unsagbare Angst, das Rattern der Maschinengewehre und Tiefflieger, die auch über diese Vertriebenen-Trecks hinweg fegten. Dazwischen das Weinen der Kinder, die nicht verstanden, was sich ereignete. Der stumme Schrei nach Essen, nach Wärme, Sicherheit und Frieden.
„So geschwächt, zum Teil schwer krank, kamen wir nur wenige Kilometer am Tag vorwärts. Wen die Kraft nicht verlassen hatte, dann zumindest der Lebenswille.“, las Madlen weiter die Zeilen ihrer Uroma. Sie hatte auch akribisch festgehalten, was den Menschen passierte. Frauen wurden von den Soldaten vergewaltigt, Männer als lebende Reparationszahlung verschleppt. Selbst vor Kindern gab es kein Halt. Von all den Gräueltaten berichtete Madlens Uroma Katharina.
Warum hatte darüber nie jemand geredet? Über den Krieg, seine Schrecken, sein Leid und Elend, das wurde einfach ausgeblendet, dachte Madlen. Sie stand auf, schaute aus dem Fenster. Hier in dem kleinen Dorf hatte ihr Uroma eine neue Heimat gefunden. Doch so leicht war es zu Anfangs nicht. Katharinas Hoffnungen waren gleich nach der Ankunft wie eine Seifenblase zerplatzt. „Wir wurden Haushalten zugewiesen. Eine ganze Familie bekam oft nur ein oder zwei Zimmer. Wir mussten arbeiten, bei den Leuten auf dem Bauernhof, auf den Feldern oder wo wir eben untergebracht worden waren. Ich hatte Glück, durfte auf dem Feld leichtere Arbeiten verrichten und musste mich um die Kinder der Hausherren kümmern. Das sei eine gute Vorbereitung, meinte die Hausherrin. Meine Schwangerschaft war nicht mehr zu übersehen. Dass das Kind von Otto war, wurde oft angezweifelt. Zu viel Leid war passiert. Doch wir waren im Westen. Nach dem Krieg bekamen die Kinder zwischendurch ein paar Stückchen Schokolade. Willst du ein Stück, hat Edgar gefragt. Er war der kleine Nachbarsjunge, der seine Mutter so tapfer bei der Flucht unterstützt hatte und sie aufmunterte, wenn sie zwischendurch doch einmal vor Verzweiflung zu weinen begann. Wir werden in der amerikanischen Besatzungszone sein. Das ist unser Glück, klärte man uns auf.“
Madlen atmete tief durch, schloss die Augen und versuchte sich bildlich vorzustellen, was ihre Uroma in ihren besten Jahren schon an Leid, Elend, Hunger und Not erleben musste. „Schlimmer als der Hunger und die Not, war die soziale Kälte. Manchmal zumindest. Wir konnten uns noch so sehr bemühen, wir gehörten nicht hierher. Wir waren geduldet, aber nicht erwünscht und nicht gemocht. Diese menschliche Kälte setzte mir sehr zu und ich musste dagegen etwas unternehmen. Mein Baby sollte bald zur Welt kommen. Ich wünschte, dass sich alle mit mir freuen und dass wir hier in Frieden leben können. Stattdessen herrschte ein anderer Krieg. Ein Krieg des Misstrauens. In diesen traurigen Augenblicken erinnerte ich mich daran, was meine Mutter einst über den Muttertag erzählt hatte. Das wollte ich auch ausprobieren. Mein ganzes Geld gab ich aus. Otto hätte geschimpft. Doch er war nicht da, galt immer noch als vermisst. Umso wichtiger war es mir, das ursprüngliche Zeichen des Muttertags zu setzen.“
Hier war das Heft zu Ende. Madlen kramte in der Truhe nach der Fortsetzung. Muttertag? Eine andere Bedeutung? Keine kommerzielle Vermarktung. Der Tag, an dem Blumen das Doppelte kosteten als zu normalen Zeiten? Madlen konnte dem Tag nichts abgewinnen und schenkte bislang nur etwas, weil es von ihr erwartet wurde und sich ihre Mutter um sie kümmerte. Doch dafür extra einen Tag? Eilig schlug Madlen das nächste Heft auf und las, was Uroma Katharina über Muttertag wusste.
„Eine Julia Ward Howe setzte sich 1870 für einen Friedenstag der Mütter ein. Als Antwort auf deren Kampf gegen den Krieg. Damit waren der amerikanische Bürgerkrieg und der russisch-französische Krieg in Europa gemeint. Offiziell gegründet hat dann die amerikanische Methodistin Anna Jarvis den Muttertag am 9. Mai 1907 in Gravis, West Virginia. Das war der Todestag ihrer Mutter, deren Lieblingsblumen weiße Nelken waren. Nach dem Gottesdienst verschenkte Anna Jarvis weiße Nelken an die Mütter des Ortes. Das tat ich in unserer neuen Heimat auch“, las Madlen weiter und beschloss, ebenfalls ihrer Mutter und Großmutter weiße Nelken zu schenken.
Denn: „Die Nelke lässt ihre Blätter nicht hängen, sondern schließt sie in ihr Herz, wenn sie stirbt – genau so, wie Mütter ihre Kinder für immer in ihr Herz schließen.“