Vogelfrau wurde sie genannt. Die alte Frau, die in dem letzten Haus im Ort wohnte. Es war ein altes Haus, renovierungsbedürftig. Als verrückt wurde sie bezeichnet, als schrullig und unheimlich. Die Spatzen würden an ihr Fenster klopfen und die Körner aus ihrer ausgestreckten Hand picken. Viele schauerliche Geschichten wurden über die Frau erzählt. Besuch erhielt die Vogelfrau nicht. Der Sohn wartete darauf, dass sie endlich starb, um das Haus abreißen zu können. Auch die Schulkinder erzählten sich unheimliche Geschichten über die Frau, die Zauberkraft besaß.
Die Vögel seien in Wirklichkeit Menschen, die sie verwunschen hatte. Sie blickten an das Fenster im oberen Stock, wenn sie auf dem Weg zur Schule an dem Haus vorbeikamen. Meist war das Fenster zu. Doch heute schaute die Vogelfrau zum Fenster heraus und winkte den Kindern zu. Florian winkte zurück, doch sein Freund Jens riss dessen Arm nach unten. „Bist du verrückt? Willst du als Spatz in ihrer Hand landen“, fragte Jens erschrocken. „Es sind alles Märchen, böse Geschichten, die über die Frau erzählt werden“, meinte Florian. „Wer sagt das?“ „Meine Eltern“, erklärte Florian. „Sie ist einfach alt und einsam, deshalb redet sie mit den Vöglen“, erklärte Florian.
Jens lachte höhnisch. „Dir kann man auch alles erzählen. Du solltest lieber mit Hans reden. Der kann dir Geschichten erzählen, da schauerst du“, erklärte Jens prahlend. Die beiden Jungen wagten wieder einen Blick zum Fenster, aus dem die Vogelfrau schaute. Jetzt streckte sie die Hand aus und wie auf Kommando kamen ein paar Spatzen angeflogen, tappten aufs Fensterbrett und hüpften vorsichtig in die Hand der Frau. „Siehst du. Sie lockt sie. Sie hat Zauberfutter in der Hand. Kein Wildvogel ist so zutraulich. Sie sind alle verzaubert“, sagte Jens.
Florian schüttelte den Kopf. „Die werden zutraulich. Wahrscheinlich hat sie die Vögel immer wieder gefüttert und nun haben sie keine Angst mehr“, erklärte Florian. Die beiden Jungen gingen weiter. „Du hast keine Angst vor ihr“, fragte Jens nach einer Zeit. „Wieso denn? Sie tut doch niemanden etwas“, meinte Florian. „Sie verzaubert die Leute und sie werden dann zu Spatzen“, sagte Jens. „Ich möchte lieber nicht in ihre Nähe kommen. Nicht einmal ihr Sohn kommt.“ Florian nickte. „Ja, das ist traurig. Aber wir wissen nicht, was vorgefallen ist. Wir dürfen nicht urteilen“, erklärte Florian. Die beiden Jungen gingen weiter. „Weißt du was, warum besuchen wir sie nicht? Sie freut sich sicher, wenn sie Besuch bekommt“, schlug Florian vor. „Zur Vogelfrau. Du bist verrückt. Was, wenn sie uns verzaubert“, fragte Jens. „Das wird sie schon nicht“, meinte Florian.
Am Nachmittag trafen sich die beiden Jungen vor dem Gartentor der Vogelfrau. Jens nahm allen Mut zusammen, schließlich klingelten sie. Kurz darauf schaute die Vogelfrau aus dem Fenster. „Was wollt ihr“, rief sie in den Garten hinunter. „Wir wollten Sie besuchen“, antwortete Florian freundlich. „Besuchen? So, das freut mich aber. Kommt herauf, die Tür ist offen“, rief die Vogelfrau. Die beiden Jungen betraten vorsichtig das Haus. Es war dunkel und unheimlich. Die Fensterläden waren geschlossen. „Kommt herauf“, rief die Vogelfrau. Oben wurde es heller. „Ich kann mich nicht mehr gut bewegen, deshalb sind unten alle Fenster geschlossen“, erklärte die Vogelfrau. „Wer seid ihr beiden? Ich sehe euch zwar jeden Tag zur Schule laufen, aber ich kenne eure Namen nicht“, erklärte die Vogelfrau. Die beiden Jungen nannten ihren Namen.
„Ja, deinen Vater kenne ich noch gut“, sagte die Vogelfrau zu Florian. „Er war ein fleißiger Schüler. Dass aus ihm einmal etwas wird, habe ich mir schon gedacht“, sagte die Vogelfrau und schaute zu Jens. „Du hast Probleme in der Schule“, fragte sie. „Geht so“, meinte Jens ausweichend. „Stimmt es, dass Sie die Vögel verzaubert haben. Dass es eigentlich Menschen waren“, sprudelte Jens heraus. Die Vogelfrau lachte.
„Wird das über mich erzählt? Dass ich Menschen verzaubere? Nun, vielleicht stimmt es ja“, sagte die Vogelfrau lachend. Jens zuckte zusammen. Da klopfte ein Spatz an das Fenster. „Es ist Nachmittag. Sie haben Hunger“, sagte die Vogelfrau, füllte eine Hand mit Körnern, öffnete das Fenster und streckte die Hand hinaus. Der erste Spatz ging zögerlich auf die Hand. „Setzt euch weiter hinter. Sie kennen euch nicht und haben Angst“, sagte die Vogelfrau. Die beiden Jungen rutschten weg und schon war der erste Spatz mutiger und tappte in die Hand der Vogelfrau und pickte das erste Körnchen. Dann kamen immer mehr und schließlich drängelten sich zehn Spatzen um die Hand der Vogelfrau.
„So ist es überall. Vor allem Neuen hat man Angst“, sagte die Vogelfrau. Jens nickte unsicher. Immer noch wusste er nicht, ob die Vogelfrau die beiden verzauberte. Als Spatz wollte er nicht enden. Trotzdem fasst er wie die Spatzen Vertrauen. „Ja, so geht es mir auch. Immer wenn wir etwas Neues durchnehmen, habe ich Angst, es nicht zu kapieren und kapiere es dann auch nicht“, erzählte Jens. „Schade, dass Sie doch nicht zaubern können“, bedauerte Jens.
„Oh, ich habe nicht gesagt, dass ich es nicht kann“, lachte die Vogelfrau. „Also können Sie nun zaubern“, fragte Jens. „Was sollte ich denn zaubern“, erwiderte die Vogelfrau. „Eine gute Note für mich. Dass ich leichter lernen kann oder keine Angst mehr vor den neuen Sachen habe“, zählte Jens auf. „Da kann ich dir helfen“, sagte die Vogelfrau. „Dafür gibt es ein Zauberwort. Das heißt Vertrauen“, antwortete die Vogelfrau.
„Vertrauen? Wem soll ich vertrauen“, wollte Jens wissen. „Dem Herrn“, sagte die Vogelfrau. „Und üben musst du. Dann wird das schon“, sagte die Vogelfrau. „Es ist niemand da, der das erklären kann“, sagte Jens. „Ich kann das erklären“, sagte die Vogelfrau und schloss das Fenster wieder. Von diesem Tag an gingen die Jungen jeden Tag zur Vogelfrau. Zuerst gingen sie ins Haus, übten mit der Vogelfrau, die ihnen Diktate diktierte, dann fütterten sie die Vögel und die beiden Jungen freuten sich, dass die Spatzen auch zu ihnen Zutrauen fassten. Dann halfen die Jungen der Vogelfrau im Haus und im Garten. Tag für Tag. Woche für Woche. An einem Dienstag freute sich Jens besonders, endlich zur Vogelfrau zu kommen. Er hatte einen Blumenstrauß gepflückt, denn er hatte eine Zwei im Aufsatz geschafft. Darüber freute er sich. Die Vogelfrau bekam nie Blumen. Sie würde sich auch freuen.
Die beiden Jungen standen gerade an der Haustür, als Jens Banknachbar Robert ihn im Garten der Vogelfrau entdeckte. „Ha, hat sie euch auch verzaubert? Deshalb hast du wohl die Zwei im Aufsatz bekommen. Ihr seid ja fleißig hier und fresst der Vogelfrau wie die Spatzen aus der Hand“ rief Robert spöttisch zu. „Genau, wir sind verzaubert. Sobald wir im Haus sind, werden wir zu Spatzen“, rief Florian belustigt zurück. „Da bekommt ihr ein Problem“, antwortete Robert. „Die Vogelfrau ist nicht mehr da. Sie wurde gestern geholt und ins Heim gebracht. Da gehört sie hin, dieses verrückte Schrulle“, prahlte Robert. Die Jungen rüttelten an der Haustür. Sie war verschlossen. Jens und Florian schauten nach oben. Aber die Fenster blieben zu. Die ersten Spatzen klopften. Doch die Vogelfrau fütterte sie nicht. „Sie war nicht verrückt. Sie war normaler als alle anderen“ sagte Jens.
Text: Petra Malbrich