„Lily 317“

Für die anderen war sie nur die Nummer 317. Ich nannte sie Lily. Weil sie so schön und weiß wie eine Lilie war. Die ganze Nacht hat sie geweint. Lautlos. Nur ein leises Fiepen konnte ich ab und zu durch die weiße Wand des Regals hören, das uns voneinander trennte. Es schneite. Leise fielen ein paar weiche Schneeflocken auf den Straßenbelag. So weiß wie Lily. Das konnte ich von meinem Platz aus durch die Gitterritzen sehen. Und die Beine der Menschen, die eilig auf diesen Wegen liefen, um ihre Weihnachtsgeschenke noch einzukaufen. Gutscheine für Schönheitsoperationen waren angesagt. Für die Frau – oh ja- und für den Mann ab der Lebensmitte. Falten sollen nicht sichtbar sein. Das Alter darf keine Spuren im Aussehen hinterlassen. Glaubten die Menschen wirklich, damit das Altern aufzuhalten? Glaubten die Menschen wirklich, wenn sie keine Falten hatten, nicht sterben zu müssen? Glaubten die Menschen, besser zu sein, wenn sie besser rochen oder aktiver zu sein, wenn sie langlebige Sportkleidung trugen? Wie viel Gift war nötig, das alles zu testen? Ich bin mir sicher, viele Menschen wissen nicht, was ihr Kauf, ihr Verhalten bewirkt. Was es für uns bedeutet.

Lily fiepte wieder. Und ich hörte, wie sie ihr Näschen nach oben zog. Gestern, als ich an der Reihe war und mein Käfig in den Untersuchungssaal getragen wurde, konnte ich wieder einen Blick auf Lily erhaschen. Ganz traurig und verunstaltet saß sie in einer Ecke in ihrem Käfig, gefangen von der Angst, dass die Ärzte sie wieder holten und piesackten. Sie versuchte nicht mehr zu fliehen, hoppelte nicht mehr in Angst und Panik in dem engen Käfig hin und her. Sie hatte inzwischen resigniert. So gerne hätte ich meinen Kopf tröstend an ihren gelegt und in ihr weiches weißes Fell geschnuppert. Sie war die schönste und mutigste Kaninchendame, die ich je gesehen hatte. Aber das war nicht schwer. Die Tiere, die ich gesehen habe, sind wie ich alle völlig verunstaltet, winden sich in Schmerzen, bekommen täglich Gift in Übermengen, bis wir endlich qualvoll daran zugrunde gehen.

Ich hatte bereits ein Auge verloren und musste erst gestern wieder grässliche Stoffe inhalieren. Eine Stimme habe ich schon lange nicht mehr. Und eine Stimme für das Recht, hier auf der Erde zu leben, hatte ich noch nie. Ich konnte meine Lily nur in Gedanken trösten. Und es tat mir im Herzen weh, mir vorzustellen, wie sie neben ihrem kleinen Abenteuerspielplatz, der ihr eingerichtet werden musste, saß, mit fast vollständig gelähmten Gesichtsmuskeln und irrsinnigen Schmerzen. Aber der Abenteuerspielplatz machte sich gut, wenn Tierschützer die Grausamkeit der Tierversuche anprangerten. Immerhin haben die Tiere einen Spielplatz und bekommen ausreichend Schmerzmittel. Also, was macht es schon? Das ist die Werbung, die niemals ein Versprechen hält, sondern einfach nur vortäuscht.

Niemand von uns hier hat Lust, sich so verstümmelt auf dem Spielplatz auszutoben. Wie auch und wozu auch? Jeremiah, so nannte ich den kleinen Beagle, der gegenüber von meinem Regal in einen Käfig gesperrt war, schnaufte so schwer, dass ich immer dachte, er sei bereits grausam erstickt, wenn er einmal keinen Laut von sich gab. Oder Erika, das kleine Rattenmädchen, das schon völlig verstümmelt war, noch ehe es den ersten Geburtstag erlebt hatte. Nur die Reinigungsfrau scheint Mitleid mit uns zu haben. Wenn sie abends zum Putzen kommt, redet sie liebevoll mit uns. „Was haben sie mit euch Armen wieder gemacht“, sagt sie dann und schüttelt den Kopf.

„Versuchstiere, vereinigt euch“, würde ich gerne rufen, damit wir uns gegen die unsinnigen Qualen wehren könnten, so wie die Tiere in Erich Kästners Konferenz der Tiere. Doch zwischen uns und diesen Tieren gab es einen kleinen oder feinen Unterschied: Sie waren beweglich, kräftig und vor allem frei. Da fühlten wir schon eher mit den Nutztieren mit. Doch selbst mit ihnen konnten wir uns nicht vereinigen. Es trennten uns immer dicke Mauern. Es trennte uns der Mensch und so wird es immer sein.

Ja, das schreibe ich auf. Denn auch wenn ich nur ein dummer Affe bin, an dem wie an allen anderen Tieren hier ausprobiert wird, wie viel Gift der Mensch verträgt, halte ich alles in einem Tagebuch fest. Für mich ist niemand hier eine Nummer. Auch ich nicht. Ich nenne mich Ruby. Das ist von dem Edelstein Rubin abgeleitet und passt zu meinem roten Fell. Außerdem sind wir mehr wert als jeder Edelstein. Ich habe allen einen Namen gegeben, weil wir alle Geschöpfe sind, die Angst und Schmerz empfinden und auch Freude. Aber hier gibt es nur eine Freude. Die, wenn endlich alles vorbei ist.

Lily fiepte nun lauter, panisch klang ihr hilfloser Schrei. Eine große Spritze hatten die Herren im weißen Kittel dabei. Wieder ein Gift oder die finale Spritze? Wir kommen hier nicht raus. Und wenn wir für das Leben der Menschen sterben, tun wir das. Aber hier ist unser Tod einfach nur sinnlos. Wir sterben für die angebliche Schönheit. Dafür, dass die Menschen in ihrer Wäsche nach Aprilduft riechen, ihre Wäsche noch weißer wird. So weiß wie Lilys Fell kann ihre Wäsche nie werden. Und ihr Herz ist sicher alles andere als rein und weiß. Lilys Fiepen steigerte sich. Dann war sie still. Und blieb es. Sie hatte die Dosis Mensch nicht überlebt. Aber nun war sie endlich frei. Ich trauerte in meiner Ecke um meine kleine weiße Lily und bemerkte nicht, dass ihr Käfig bereits desinfiziert und neu besetzt wurde. Es war ein kleines weißes Kaninchen, das ängstlich in dem Käfig hin und her hoppelte. Sie nannten sie Nummer 317.

Text: Petra Malbrich

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