Den dunkelhaarigen Jugendlichen beobachtete Hajo schon seit zwei Wochen. Er war ihm aufgefallen, wohl weil er ihn ein bisschen an sich selbst in dem Alter erinnerte. „Geh weg hier, Ava“ fuhr eine Mutter ihre Tochter an und zog sie am Arm in sicherer Distanz von dem Jugendlichen. Die Frau beugte sich zu ihrer Tochter herunter und redete ununterbrochen auf sie ein. Wie oft sie ihr das schon gesagt habe, gefolgt von einer ganzen Litanei an Drohungen und Warnungen. Das ungefähr fünfjährige Mädchen nickte den Tränen nahe, fasste ihre Hände um den Puppenwagen und versuchte mit der Mutter Schritt zu halten. „Ich habe ihr nichts getan“, hörte Hajo den Jungen verzweifelt rufen.
Die Frau deutete im Laufen eine abfällige Handbewegung an. „Letze Woche hast du ihre Puppe auf den Boden geworfen, dass sie kaputt wurde. Ist das etwa nichts? Und du hast sie angetatscht. Ist das etwa auch nichts“, rief sie dem Jungen hinterher und beschleunigte dann ihren Schritt. Paul stand mit gesenktem Kopf vor der Drogerie in der Einkaufspassage, bewegungslos. Hajo beobachtete den Jugendlichen aus sicherer Entfernung, auf einer der Bänke am Eingang der Passage sitzend. Es stimmte.
Fahrradgeklingel ließ Hajo aufblicken. Drei andere Jugendliche rasten mit ihren Fahrrädern auf den Paul zu. Einer bespuckte ihn und ließ höhnisches Gelächter folgen, der andere sauste mit einem „na, heute wieder kleine Mädchen befingert, Paul“ an dem Jugendlichen vorbei, der dritte schien ein Mitläufer zu sein. Paul hieß er also, dachte sich Hajo, während er zuschaute, wie sich Paul mit dem Ärmel seines Pullis die Spucke aus den Haaren wischte. Paul schlenderte weiter mit gesenktem Kopf.
„Sie scheinen nicht deine Freunde zu sein“, begann Hajo ein Gespräch. Paul blickte kurz auf, zuckte nur die Schultern und ging weiter. Seiner schwerfälligen Gangart war bereits anzusehen, dass sein Leben nicht gerade das leichteste war. „Das kommt mir so bekannt vor. Mir ging es damals ähnlich“, versuchte Hajo Pauls Aufmerksamkeit zu erregen. Paul sah wieder auf, den Fremden direkt ins Gesicht. Hajo konnte das kleine Muttermal am linken Ohr erkennen und war freudig erregt. Er musste es sein. Paul hatte sie ihn also genannt, dachte Hajo und wusste nicht, wie er nun reagieren sollte.
Er konnte schlecht sagen, schön, dich endlich gefunden zu haben, mit mir kannst du über alles reden. Der Junge würde ihn auslachen. Nein, wahrscheinlich würde er überhaupt nicht reagieren und einfach weiter laufen. „Haben sie einen bestimmten Grund, auf dich loszugehen oder warum veranstalten sie diese Hexenjagd“, hakte Hajo nach. Der Junge sah wieder auf. Nur einen kurzen Augenblick, bevor er ohne weitere Reaktion zum Brunnen lief, der auf dem parkähnlichen Platz vor der Einkaufspassage stand. Er hielt seine Hände unter den Wasserstrahl, kühlte mit dem Wasser sein Gesicht.
Hajo lächelte liebevoll, um sich gleich danach zu schelten. So wurde das nichts mit einer Kontaktanbahnung, schimpfte sich Hajo und zermarterte sich das Hirn, wie er ein Gespräch zu dem Jungen herstellen konnte. Aber ihm fiel partout nichts ein und konnte nur noch zusehen, wie sich Paul wieder in Bewegung setzte. Erneut klingelten die Fahrradglocken.
„Lauf Paul, lauf. Die Polizei wird dich gleich holen. Die Tante vorhin hat die Polizei gerufen. Konntest deine schmutzigen Finger nicht bei dir lassen. Was hast du nun wieder kaputt gemacht, Paulchen“, riefen die Jugendlichen spöttisch. Hajo schaute sich um. Tatsächlich kam ein Polizeiauto auf den Platz gefahren und hielt an. Zwei Beamte stiegen aus und liefen auf Paul zu. Dieser blieb regungslos stehen. „Er ist es. Er hat meine kleine Tochter mehrfach belästigt, ihre Puppen kaputt gemacht und vorhin versuchte er, ihr den Puppenwagen aus der Hand zu reißen. Ich bin in großer Angst, wozu er noch fähig ist“, sagte die Frau, die mit ihrer Ava, wie sie das Mädchen genannt hatte, zum Platz an der Einkaufspassage zurückkam.
Die Beamten nickten, packten Paul an den Armen und führten ihn zum Polizeiauto. „Entschuldigen Sie bitte. Was soll das? Der Junge hat niemandem etwas getan. Die Frau lügt“, rief Hajo dazwischen. „Wer sind Sie“, wollte einer der beiden Beamten wissen. „Ein Zeuge“, meinte Hajo, zog seinen Personalausweis und seinen Dienstausweis aus seinem Portmonee. „Entschuldigen Sie Herr Richter Peters. Wir haben Sie nicht gleich erkannt“, meinte der Beamte zerknirscht, nahm die Personalien des Jungen auf und bat die Frau, ihnen zur Dienststelle zu folgen. Damit hatte Paul nicht gerechnet. Verwundert blieb er bei dem ihm Unbekannten stehen, bis die Polizisten den Platz verlassen hatten. „Danke“, flüsterte Paul.
Hajo nickte. „Also, warum veranstalten sie diese Hexenjagd um dich“, hakte Hajo erneut nach. Paul blieb stumm. „Ich wollte nur wissen, ob es Ava gut geht“, sagte Paul nach einer Weile. „Sie ist meine Schwester“, fügte Paul an. „Verstehe. Sie hat Ava zur Adoption frei gegeben“, hakte Hajo nach. „Paul nickte stumm. „Sie haben ihr viel Geld geboten“, fragte Hajo weiter. Paul nickte wieder stillschweigend. In dieser Sekunde schämte er sich. Wenn der Mann seine Mutter kannte, dann gehörte er auch zu ihren vielen Männerbekanntschaften, die manchmal nicht ganz spurlos endeten. Jedes Mal beteuerte sie, dieses Mal sei es ihre große Liebe. Doch sie konnte sich nicht binden.
„Sie dürfen meine Mutter nicht verurteilen. Sie wollte, dass es Ava besser geht“, nahm Paul seine Mutter in Schutz und in seinen Augen blitzte ein Fünkchen Hoffnung. „Haben Sie mir deshalb geholfen? Wegen meiner Mutter? Sind Sie Avas Vater“, fragte Paul. Hajo schüttelte den Kopf. „Nein“, meinte der Richter. „Ich bin dein Vater. Aber ich konnte deine Mutter nicht ändern “, meinte der Mann. Paul schaute Hajo, der sich inzwischen wieder auf die Bank setzte, überrascht an. Als die Jugendlichen wieder mit dem Fahrrad vorbei fuhren und „lauf Paul, lauf“ riefen, setzte sich Paul zu Hajo auf die Bank und konnte endlich Ruhe finden.