„Bausteine des Lebens“

Immer noch hallte die unheilvolle Botschaft in ihrem Kopf. „Sie werden nie Kinder bekommen können“, sagte die Ärztin. Klara hörte die Stimme als wäre sie kilometerweit weg. Wie in Trance hatte Klara die Praxis verlassen und lief wie ferngesteuert den Weg entlang bis zum Supermarkt. Als hätte jemand auf einen Knopf gedrückt, war Klara nun hellwach. Klara blickte sich um. Sie brauchte nichts im Supermarkt. Warum war sie hierher gelaufen?

Ein Einkaufswagen drängte sich an Klara vorbei. Eine junge Frau hatte ihr kleines Kind in den Wagen gesetzt und wollte den Supermarkt betreten. Das war der Grund, dachte Klara. Sie war der Frau mit dem kleinen Kind gefolgt. Einem kleinen Mädchen. Das musste es sein. Wohl aufgrund ihrer eigenen düsteren Prognose, war sie wie von Fäden gezogen der Frau und ihrem Kind gefolgt. Klara stellte sich für ein paar Sekunden vor, wie es wäre, wenn sie diese Mutter wäre und mit ihrem Kind zum Einkaufen ginge. Sie würde alles einpacken, was ihrem Kind schmecken würde. Maximilian würde nicht mehr jeder Schwangeren sehnsuchtsvoll hinterher schauen und in jeden Kinderwagen lachen. Sie wären endlich eine glückliche Familie. Sie werden nie Kinder bekommen können, dröhnte die Stimme wieder in Klaras Kopf. Ohne nachzudenken folgte Klara der jungen Frau in den Supermarkt.

Keine Kinder zu haben, wäre nicht das Schlimmste, dachte Klara. Aber sie würde Maximilian verlieren. Sie wollte ihn nicht verlieren. Nicht deshalb. Sie konnte doch nichts dafür, dass sie keine Kinder bekommen konnte. In guten wie in schlechten Zeiten, hatten sie sich geschworen. Keine Kinder zu haben, konnten doch keine schlechten Zeiten sein. Andere wären froh, sich nicht mit Kindern belasten zu müssen. Andere lassen abtreiben, um weiter sorglos, bequem und finanziell unbelastet leben zu dürfen. Jetzt zog die junge Mutter ein paar Gläschen aus dem Regal. Welche Mahlzeit würde das kleine Mädchen bekommen? Kartoffeln und Rahmgeschnetzeltes? Spaghetti Bolognese?

Ihre Tochter würde das am liebsten essen, war sich Klara sicher. Sie würde nie eine Tochter haben, erinnerte sie ihre innere Stimme. Was suchte die Mutter nun? Klara war entsetzt zu sehen, dass die Frau den Wagen mit ihrer Tochter einfach im Markt stehen ließ. Wie konnte die Frau nur so unbedacht und sorglos sein? Sie würde ihr Kind nie unbewacht lassen. Es gab viel zu viel Böses auf der Welt. Solche Gedanken schossen Klara durch den Kopf. Und als wäre ein Befehl dahinter, eilte sie zu dem Einkaufswagen und lächelte dem Kind zu.

Es grinste breit zurück. Es hatte so viel Vertrauen in die Welt, noch keine Vorstellung, welche Gefahren überall lauerten. Das Mädchen war so unbedarft und einfach glücklich. Klara schaute nach der Mutter. Sie stand am anderen Ende des Einkaufsflurs, hatte eine Dose in der Hand und wohl eine Bekannte getroffen, mit der sie sich unterhielt. Das war die Gelegenheit, befahl eine Stimme. Klara streckte die Arme nach dem Kind aus, das ihr ebenfalls bereitwillig die Ärmchen entgegenstreckte.

„Hey. Was soll das? Lassen Sie mein Kind in Ruhe!“ Die Mutter hatte Klara bei dem Kind entdeckt. Schneidend klang der Befehl. Was hast du getan, rügte sich Klara. „Es hat seinen Schnuller verloren“, stammelte Klara, drehte sich um und eilte aus dem Supermarkt. Was hatte sie getan? Sie war versucht, das Kind zu entführen, gab Klara ehrlich zu. Wollte sie das wirklich? Um ein Baby zu haben? Damit Maximilian sie nicht verlassen würde? Denn früher oder später würde er wissen wollen, warum sie kein Kind bekamen. Mit Tränen in den Augen hastete Klara die Einkaufspassage entlang. Auch wenn sie wie blind durch die Gegend rannte, wusste sie links und rechts der Passage entlang ein Geschäft für Kinderbedarf jeden Alters. „Hey, warten Sie!“ Die Mutter war ihr gefolgt, dachte Klara und rannte noch schneller.

Die Einkaufpassage endete auf dem Hauptmarkt. Eine Kirche stand dort. So schnell sie konnte, öffnete Klara die schwere Kirchentür und suchte Schutz in dem kühlen dunklen Haus. Rechts vom Eingang war eine Spielecke eingerichtet, registrierte Klara. Damit Kinder während des Gottesdienstes eine Beschäftigung hatten und ruhig blieben, während die Erwachsenen sangen und beteten. Auch Bauklötze lagen auf dem Tisch. Klara trat näher, legte einen Bauklotz auf den anderen. Große Wolkenkratzer und Schlösser hätte sie mit ihrem Kind gebaut. Sie würde das nie spielen können. Nicht mit ihrem Kind. Sie würde keine Kinder haben. Stattdessen wäre sie beinahe straffällig geworden. Aus Angst. Doch Angst ist ein schlechter Ratgeber, fiel Klara ein, während sie einen Bauklotz in der Hand drehte. Die Bausteine in der Kirche waren nicht nur für Kinder goldrichtig. Hier waren die Steine, auf die sie bauen konnte. Auf Gott. Und wenn für sie vorgesehen war, keine eigenen Kinder zu haben, dann würde er ihr auch helfen, wenn alles zerbrach. Klara verließ die Kirche, streckte ihr Gesicht der Sonne entgegen. Sie werden nie Kinder bekommen, hallten die Gedanken wieder in ihrem Kopf. Aber sie hatten ihren Schrecken verloren.

Foto und Text copyright: Petra Malbrich

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