Wahrsagerin Leobas Ohnmacht

Die junge Frau vor ihr schluchzte immer wieder. Manchmal konnte sie überhaupt nicht mehr sprechen. Leoba hörte aufmerksam zu, wischte immer wieder über ihre Glaskugel und tat als sähe sie die Lösung greifbar nah vor sich. Eigentlich wäre es einfach, dachte Leoba. Sie hatte genug von den derzeitigen Problemen der jungen Frau gehört. Ihre Beziehung war gescheitert, ihr Partner hatte eine andere kennengelernt und die junge Frau sitzen lassen. Dass es wegen einer anderen war, vermutete Leoba. Meist war es nur dieser Grund. Immerhin war diese Frau ein wenig gläubig, das erleichterte ihr die Arbeit. Leboas Armreife klimperten, als sie erneut über ihre Glaskugel wischte. Zusammen mit der Langhaarperücke und den langen Creolen im Ohr sah sie aus wie eine Herumziehende, eine Nicht-Sesshafte. Leoba wusste nicht, wie dieser Stamm genannt wurde, denn die Bezeichnung, die sie kannte, durfte man nicht mehr sagen. Aber denken, brummte Leoba in sich hinein. Sie wischte nochmal über die Kugel und beugte sich vor.

„Ich sehe dich sitzen, vor einem Scherbenhaufen. Ganz deutlich sehe ich deine Hilflosigkeit, spüre deine Wut, deine Verzweiflung. In dem Scherbenhaufen sind Gründe, die dir für das Scheitern der Beziehung an den Kopf geworfen wurden, aber auch die Argumente, die du genannt hast. Ich höre die Aggression in seiner Stimme. Unschöne Worte. Angriff war noch immer die beste Verteidigung. Ich sehe dich am Boden sitzen. Immer wieder tauchen Fragen auf und doch ist es nur eine einzige: Warum? Warum ist es so gekommen? Warum hat man nicht vorher alles probiert? Warum hat man wieder zu sehr vertraut? WARUM?“

Leoba hielt kurz inne, schaute intensiver. Dann redete sie wieder.

„Noch etwas ist in dem Haufen. Weiter unten vergraben, das Fünkchen Hoffnung, nicht mehr sichtbar. Dafür ist da eine Angst, dass dir auch bald genommen wird, was dir noch bleibt. Du überlegst Schritte. Du greifst nach dem Strohhalm, im Moment wohl wissend, dass es keiner ist. Trotzdem versuchst du tapfer zu sein, setzt eine Fröhlichkeit auf und sprichst dir selbst Mut zu. „Gott ist mächtig!“ Was erhoffst du dir davon? Dass er unser Leid und Unglück sieht? Dass er handelt? Dass er uns hilft? Dass diese dunklen Stunden vorüber gehen? Dass wieder Licht scheint und die Scherben zusammengeklebt werden? Der Mann, der dich aus dem Haus geworfen hat, ist dein einziger Wunsch, dass es wieder gut wird. Du denkst wieder: Gott ist mächtig. Und dazwischen weiter die Frage: WARUM? Deine Worte haben in mir nachgehallt. Warum?“

Effektvoll hielt Leoba inne, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Für ihre Kunden in ihrem Wahrsager-Zelt sah das aus als würde sie mit übernatürlichen Kräften Kontakt aufnehmen und könnte kurz darauf die Lösung präsentieren. Nun so einfach ging es leider doch nicht, obwohl es einfach wäre. Es gab so viele verletzte Herzen, wenn sie einfach wieder ausgehen würden, sie würden sich von selbst finden.

Leoba beugte sich wieder vor, wischte geheimnisvoll über die Kugel, blieb eine halbe Minute stumm und begann dann zu orakeln.

„ Ich sehe einen Mann, Ende 40. Er sitzt vor einem Scherbenhaufen. So kommt ihm sein Leben vor. Er hat Beruf, hat Geld und doch fehlt ihm das, was er sich am sehnlichsten wünscht: Eine Frau, die mit ihm das Leben teilt. Eine Frau, die gerne ein Kind haben darf. Eine Frau, die im Glauben steht und mit der er eine Familie bilden darf. Familie, das ist sein sehnlichster Wunsch. Tagsüber kann er sich ablenken. Tagsüber kann er große Worte tönen. Tagsüber sind die Gespenster nicht sichtbar. Genauso wenig wie das Fünkchen Hoffnung, dass bei jedem Menschen irgendwo tief in dem Scherbenhaufen versteckt ist. Gott ist mächtig, denkt auch er. Und doch sitzt jeder vor seinem Scherbenhaufen. Vielleicht ist das Warum überhaupt nicht wichtig. Vielleicht war es sogar richtig. Denn Gott hat einen Plan und für jeden eine Lektion. Ihr Mann wird seine nun bitter lernen und sehr bald vor seinem Scherbenhaufen sitzen. Aber vielleicht hat Gott für dich den Mann vorgesehen, der ebenso wie du bereits vor einem Scherbenhaufen sitzt. Nur hatte sich bisher noch niemand für ihn interessiert. Er hat zu altmodische Ansichten. Er glaubt, dass Gott mächtig ist und dass Gott den richtigen Zeitpunkt….“

Normalerweise würde Leoba nun erklären, dass sie den Zeitpunkt kenne. Sie würde ihrer Klientenin die Kugel zeigen und fragen, ob sie Gott sehe? Dann würde sie ihr erklären, dass sie innerhalb der nächsten zwei Tage eine Begegnung haben würden, die Spuren hinterlassen würde. Aber so weit kam Leoba nicht.

Die Glocke bimmelte. Sie blickte genervt auf, als der Mann das Zelt betrat, von dem sie gerade gesprochen hatte. Dass ihm beim Bezahlen der Schlüsselbund aus der Hosentasche gefallen war, sei ihm erst jetzt aufgefallen. Doch er wollte ihn gleich holen, da er einen Termin habe. Als Leoba ihm den Schlüsselbund reichen wollte, reagierte er nicht. Er hatte nur Augen für die junge Frau.

„Ich habe gerade zwei Freikarten für den Break Dance bekommen. Ich warte vor dem Zelt“, sagte der Mann. Die junge Frau nickte, kramte ihre Geldbörse aus der Tasche und stürmte aus dem Zelt.

Leoba folgte den beiden und drehte das Schild an ihrem Zelt herum. „Heute geschlossen.“ Der Schausteller nebenan lachte. „Hat dir der Herr das Geschäft vermasselt?“, fragte er zweideutig.

Text und Foto copyright: Petra Malbrich

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