
An die Gebrauchsanweisung hielt sich Anton nicht, als er die Blumensamen einfach über die Erde streute. „Auf meinem Grab soll eine Blumenwiese entstehen, damit immer Bienen und Schmetterlinge um mich herum sind“, hatte Charlotte vor einigen Monaten bestimmt, als ihr Ende nahte. Eine kunterbunte Blumenwiese würde es werden. So kunterbunt und spontan und trotzdem zuverlässiger und genauer als jede Gebrauchsanweisung. Wie Charlotte selbst, dachte Anton, während er ein wenig Blumenerde über die Samen streute und diese anschließend angoss. Er freute sich, ihr diesen letzten Wunsch erfüllen zu können. Trotzdem ging es ihm nicht gut.
Was sollte aus ihm werden, ohne seine Mentorin, die für ihn Lehrerin, Mutter und Freundin war. Er schaute kurz auf und sah Charlottes Nachbarin auf dem Friedhofsweg laufen, den Stock in der einen Hand, an der anderen von ihrer Pflegerin geführt. Sie schimpfte wieder lautstark, konnte Anton an ihrer Gestik und ihren Lippen ablesen. Er musste schmunzeln. „Da bin ich gespannt, wie lange Gunda diesmal braucht, um die junge Frau aus dem Haus zu ekeln“, hätte Charlotte jetzt zu Anton gesagt. „Aber wir dürfen nicht urteilen. Wir wissen nicht, was sie durchlebt hat und müssen sie nehmen wie sie ist. Auch sie hat einen guten Kern. Irgendwo“, fügte Charlotte schmunzelnd an. Er hätte gelacht und mit seinen Händen geantwortet, wie froh er sei, deren Nörgelei nicht hören zu können und Charlotte hätte genickt und ihm auf die Schulter geklopft. Sie brauchte einen Menschen nur kurz beobachten, schon erkannte sie dessen Charakter. Genauso gelang es ihr, innerhalb von Sekunden eine Situation zu erfassen und zu handeln, falls nötig. Bei ihm hatte sie es als notwendig erachtet.
Es war beim Sommerfest der Gemeinde. „Bleib besser zu Hause, sonst werden sie dich wieder hänseln“, warnte sein Vater. Manchmal glaubte er, die Eltern würden sich für ihn schämen. Ohne Grund hatte seine Mutter die Familie schließlich nicht verlassen, dachte Anton. Einen Neuanfang wollte sein Vater, als sie vor wenigen Wochen in diesen Ort zogen waren. Aber Anton wollte nicht immer nur zu Hause zu sitzen, während sich alle anderen amüsierten. Viel Abwechslung gab es in dem kleinen Dorf ohnehin nicht. Zu den Jugendlichen in seinem Alter hatte Anton noch keinen Kontakt. Wie auch? Er ging in eine andere Schule, in der er mehr oder weniger die Zeit absaß, um ein paar Sätze in Gebärdensprache formulieren zu können. Wer konnte schon so sprechen? Niemand in dem Dorf. Trotzdem ging er zu dem Festplatz und stellte sich an, um eine Cola zu bestellen.
Doch als er an der Reihe war und auf die Getränke deutete, wurde der Verkäufer ungeduldig. „Sag, was du haben willst oder mache den anderen Platz“, sagte der Verkäufer genervt. Anton verstand kein Wort und gestikulierte noch ein wenig wild um sich, als der Verkäufer ihn nachäffte und Anton mit gesenktem Kopf beiseite treten wollte. „Was wird ein junger Mann schon wollen. Etwas zu Trinken natürlich“, mischte sich eine Frau ein. Doch auch das wusste Anton nicht. Erst als ihm die Frau eine Flasche Cola überreichte und sich in Gebärdensprache als Charlotte vorstellte.
Sie nahm ihn mit zu ihrem Tisch, stellte ihn vor und redete solange auf ihn ein, bis er seinen Vater zu dem Fest holte. Das war der Beginn der langen Freundschaft mit Charlotte. Sie nahm ihn unter ihre Fittiche, vertiefte mit ihm seine Kenntnisse in der Gebärdensprache, lehrte ihn zu schreiben und zu lesen. Vor allem aber lehrte sie ihn, Mut zu haben, an eine Perspektive zu glauben und suchte mit ihm einen Ausbildungsplatz zum Alltagspfleger. Dann stellte sie ihn an, damit er ihr zur Hand ging und ihr half, Besorgungen zu erledigen. Vor allem aber lernte er durch das Leben mit Charlotte, dass es immer einen Weg gab, dass es Vertrauen brauchte auf Gott, „die alles tragende Hand“, wie Charlotte es ausdrückte. Für Anton war Charlotte die tragende Hand, seine Stütze, sein fröhlicher Geist, wie er nun erkannte. Er brauchte Charlotte. Sie würde ihn weisen, wie das Leben für ihn weitergehen würde.
Zweifel und Mutlosigkeit breiteten sich in Anton aus, gerade als er Gunda und ihre neue Pflegerin beobachtete. Egal welche gerade bei der Frau war, niemand konnte sie zufriedenstellen. „Soweit, dass du nur mit deinem Schicksal haderst, darfst du es nie kommen lassen“, sagte Charlotte, wenn Gunda wieder eine ihrer besten Vorstellungen gab. Mürrisch und missmutig schaute die alte Frau. Obwohl sie im Leben reich beschenkt wurde, übersah sie das und suchte stattdessen ein Haar in jeder Suppe.
Kurz nachdem Gunda mit ihrer Pflegerin nach Hause ging, folgte Anton. Er wollte sich in Charlottes Garten noch um die Pfingstrosen kümmern. Diese gehörten zu Charlottes Lieblingsblumen. Morgen an Pfingsten würde er ein paar abschneiden und sie in einer Vase auf Charlottes Grab stellen. Sie liebte Blumen, liebte helle fröhliche Farben und sie liebte Pfingsten, weil der Mensch erneuert wurde, weil er daraufhin immer Wege fand, um ein gutes Leben zu führen. „Lebe so, dass du das Beste aus einem anderen Menschen hervorlockst“, war Charlottes Grundsatz. Anton lächelte, schaute über die Pfingstrosen hinweg zu Gundas Haus.
Gunda stand an der Tür und fuhrwerkte mit ihrem Stock herum. Antons Blick folgte der Richtung. Aha, die Pflegerin hat aufgegeben, dachte Anton und schmunzelte, als er sie im Auto das Grundstück verlassen sah. Anton schnitt ein paar Pfingstrosen ab, fügte ein paar Akeleien dazu. Das blasse Rosa wirkte vornehm neben dem kräftigen Lila und im Ganzen betrachtet, ergab es einen wunderschönen Blumenstrauß. Dann ging er in Charlottes Küche und schrieb „Ich bin Ihr Alltagshelfer“ auf einen Zettel. So ausgestattet klingelte er an Gundas Tür, überreichte ihr erst den Blumenstrauß und dann den Zettel, ging in Gundas Garten und begann Unkraut zu jäten. Kurz darauf schaute Anton auf, um Gundas Reaktion zu erfahren. Wie gewohnt schimpfte sie in seine Richtung, gestikulierte mit dem Stock, wohl wissend, das Anton sie nicht verstehen konnte und mit ihr deshalb nicht streiten würde. Kurzdarauf hielt sie die Nase in die Pfingstrosen und lächelte über das kostbare Geschenk.