
Das Handy brummte. Immer lauter, immer dringlicher. Sieben, acht Mal hintereinander. Das Brummen dröhnte in Bettinas Kopf als würde ein Presslufthammer im Einsatz sein. Wie ferngesteuert tastete Bettina nach dem Handy und warf noch kurz einen Blick auf die grünen Leuchtziffern ihres Radioweckers. 1.15 Uhr.
„Sie vergiften uns heimlich. Sie verschleudern Viren und Bakterien. Diese Schweine.“ Ines hatte das unter vier Fotos geschrieben, auf denen weiße Streifen am herrlich blauen Nachmittagshimmel zu sehen waren. Ja, Flugzeuge hinterließen Kondensstreifen. Bettina wischte sich mit der Hand über die Stirn. Sie glühte noch immer, beschloss, die Nachricht zu ignorieren, legte sich zurück und versuchte wieder einzuschlafen. Noch immer hatte sie Gliederschmerzen. Einen heftigen grippalen Infekt hatte sie sich eingefangen. Kaum hatte Bettina das Nachtlicht wieder ausgeschaltet, brummte das Handy wieder eindringlich mehrmals hintereinander. Ausschalten konnte Bettina das Handy nicht. Sie war der Notruf ihrer Mutter und wollte auch für die Kinder erreichbar bleiben. Blockieren konnte sie Ines nicht. Sie kannten sich schon so lange, sie gehörte schon fast zur Familie. Bettina blieb hartnäckig. Wenn Ines sah, dass sie ihre Meldungen nicht anschaute, würde sie aufgeben. Das war meist der Fall. Doch dieses Mal nicht. Statt des Brummens, das Mitteilungen im Messenger ankündigte, klingelte nun das Handy. Ines versuchte sie anzurufen. Bettina zog die Decke über den Kopf, bis das Klingeln aufhörte. Reden würde sie um diese Zeit sicher nicht mit Ines. Das endete ohnehin im Streit. Ines gab auf, schickte stattdessen wieder Mitteilungen.
„Sie dir das Video an. Bis zum Schluss. Diese Schweine!!“ Irgendein unaussprechlicher Name, der als Experte bezeichnet wurde, wofür, das hatte Bettina nicht verstanden, erzählte etwas von einem neu erfundenen Virus, das demnächst unser Leben bedrohe. Bettina hörte sich den Unfug nicht weiter an. Gleich darauf kam wieder eine Mitteilung, versehen mit einem bösen Smiley. „Das wird in den Geheimlaboren gezüchtet. Das ist der Grund für Krieg auf der ganzen Welt, nicht das, was sie erzählen. Wach endlich auf, tu etwas. Oder willst du ein Mörder sein?“ Dem folgten ein wütender Smiley, einer mit Hörnern, ein Kotzsmiley und einer, der die Zunge bleckte.
Bettina platzte nicht nur der Kopf, sondern inzwischen auch der Kragen. „Was tust du denn? Wie rettest die Menschheit?“, schickte nun Bettina zurück. Prompt kam die Antwort. „Anschauen, aufklären und entgiften“, forderte Ines Bettina noch auf und schickte den Namen eines Mittels, das schon giftig klang. Bettina schüttelte den schmerzenden Kopf. Sie selbst war nie leichtgläubig, sondern hinterfragte alles. Aber jeden Unsinn für bare Münze nehmen, das konnte Bettina nicht nachvollziehen. Ines schaute Videos, auf denen irgendwelche Unbekannte irgendetwas faselten und das ging viral. Das wurde geglaubt. Unglaublich. Ines war wohl eingeschlafen, dachte Bettina und ließ sich ebenfalls wieder ins Kissen fallen, als das Handy erneut brummte. Noch dringlicher, noch öfter. Was hatte sie jetzt wieder gefunden?
„Dieses Schwein. Will Abtreibungen legalisieren“, schrieb Ines unter dem Kopfbild des Papstes. Bettina reichte es nun. Sie schickte ein Video an Ines, einen Ausschnitt der öffentlich rechtlichen Nachrichten, in dem der Papst erklärte, Abtreibung sei Mord. Es folgten drei Reihen Lachsmileys und drei Reihen Zugenblecker. „Du bist auch ein Schaf. Ich war vor fünf Jahren auch noch so. Das sind die Nachrichten. Die darfst du nicht glauben“, war Ines Antwort. Bettina schickte den Link dieser Papstaussage vom Domradio. Die Antwort kam wieder prompt. „Diesen Sender kenne ich nicht. Da kann ja jeder alles erzählen.“
So, nun ja. Bettina stimmte das traurig. Diese Frau war inzwischen gefangen, dass sie nicht einmal bemerkte, dass sie nicht mehr differenzieren konnte. Ihre unbekannten Nachrichten stimmten, alles, was gegen ihre Meldungen spricht, ist erfunden und erlogen, gerade wenn es bekannte Sender sind, aber ebenso bei unbekannten. Noch bevor Bettina überlegte, darauf noch zu antworten, schickte Ines weitere Meldungen, die wieder mit den üblichen Smileys begannen.
„Wenn du so blöd bist, das zu glauben, bist du auch so blöd und glaubst, die Erde ist rund. Das stimmt nicht. Sie ist eine Scheibe. Es stimmt auch nicht, dass die Pole abschmelzen oder Maria von Gott schwanger wurde. Wir werden belogen. Nur belogen und niemand checkt das. Wie wird man schwanger? Mensch und Mensch, Lachsmiley“
Bettina wischte sich über die Augen, hatte das Gefühl, nicht richtig zu lesen. Sie schickte Ines eine Antwort. „Mensch und Mensch ergibt Mensch, aber ergibt nicht Gott. Esel und Esel ergibt schließlich auch nicht Hase.“ Ines schickte drei Reihen aller möglichen Smileys. Bettina hatte keine Lust mehr. „Rette du ruhig weiter die Welt, aber lass mir jetzt meine Ruhe. Ich habe Grippe und will endlich schlafen. Danke.“
Die nächsten Minuten blieb es ruhig, doch Bettina hatte sich zu früh gefreut. „Du bist total dumm. Viren gibt es NICHT!!!“, schrieb Ines. Sie merkte nicht, dass sie sich in ihren Aussagen innerhalb von Minuten selbst widersprach. Dann blieb es ruhig. Die ganze Nacht über. Auch am anderen Morgen war keine Mitteilung von Ines im Postfach. Bettina sorgte sich, statt sich zu freuen, dass Ines endlich Ruhe gab.
„Alles in Ordnung bei dir“, fragte Bettina. Kurz darauf antwortete Ines: „Mir ist schlecht. Habe einen Magen-Darm-Virus eingefangen.“ Bettina grinste. Nun würde sie Ines mit ihren eigenen Aussagen eine Retourkutsche erteilen. Sie schrieb: „Du Schlafschaf. Viren gibt es doch gar nicht“ und schickte ebenfalls einen Lachsmiley mit. Kurz darauf kam Ines Antwort. „Dir ist wirklich nicht mehr zu helfen. Geheimlabore. Sie vergiften uns.“ Dazu ein Foto mit einem Kondensstreifen am blauen Morgenhimmel.