Elisabeth ist die Person, die ich aus meinem Roman „Dann kam Maria“ streichen musste. Mit 444 Seiten wäre es im Selbstverlag zu teuer geworden. Aber Elisabeth ist eine wichtige Person. Deshalb hier als Fortsetzungsgeschichte. Hier nun Teil 2:

„Kannst du mir sagen, was passiert ist?“, flüsterte Elisabeth.
Marie nickte.
„Mama hat in den Kühlschrank geschaut und ist dann einfach umgefallen.“ Marie zwinkerte die Tränen weg, hielt ihre Puppe noch fester.
Elisabeth strich dem Mädchen über die Haare, wie es Julia immer tat, wenn sie sich oder das Mädchen trösten wollte. Julia hatte wohl Hunger, der Kühlschrank war wahrscheinlich leer und als sie sich möglicherweise eine Konserve aus ihrem zum Vorratsraum umfunktioniertem Schrank im Flur holen wollte, hatte sie einen Schwächeanfall.
Maries eindringlicher Blick unterbrach Elisabeths Gedanken. Die Angst in Maries Augen schrie förmlich. Elisabeth wusste, was das Mädchen nun fragen würde und war froh, durch den Notarzt einen kleinen zeitlichen Aufschub zu erhalten.
„Die Patientin war ohnmächtig geworden und wird wohl einige Tage im Krankenhaus bleiben müssen. Ob sie durch den Aufprall eine Gehirnerschütterung hat, wissen wir nicht, doch zumindest hat sie durch den Sturz keine Brüche davongetragen. Geprüft wird natürlich auch, ob Mangelerscheinungen. Äußere Gewalteinwirkung liegen nicht vor“, erklärte der Notarzt. „Sie kümmern sich?“, fügte er noch an.
Elisabeth, die das Mädchen noch immer fest umarmt hielt, nickte und versank wieder in Gedanken, als sich Marie aus der Umarmung reißen wollte.
Elisabeth hob den Kopf und sah, dass Julia wieder zu Bewusstsein gekommen war. Sie streckte den Arm nach ihrer Tochter aus, doch die Sanitäter trugen sie aus der Wohnung, ohne Marie zu ihrer Mutter zu lassen.
„Es wird sich gekümmert“, sagte der Notarzt.
Bis Elisabeth aufgestanden war, um mit Marie auf die Straße zu eilen, wurde die Trage schon in den Rettungswagen geschoben und die Tür geschlossen.
„Mama“, schrie Marie. Ihre Starre war gebrochen, die Angst nahm ihren Ausdruck an.
Elisabeth wartete im Treppenhaus auf Marie. Ihr Gesicht hatte Marie in ihrer Puppe vergraben.
„Wo muss ich jetzt hin?“
Marie klang wie eine resignierte Erwachsene, die ihr Urteil anteillos zur Kenntnis nahm. Es schmerzte Elisabeth.
„Du darfst in eine nette Familie, die dir ein Bett und ein Zimmer gibt, bis deine Mama wieder aus dem Krankenhaus entlassen wird“, sagte Elisabeth freundlich. Sie klang beruhigend, obwohl sie innerlich aufgewühlt war. Elisabeth war kurz davor, einen Tabubruch zu begehen und wollte Marie mit zu sich und ihrer Mutter nach Hause nehmen.
Elisabeth ließ Marie Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Währenddessen öffnete Elisabeth den Kühlschrank, um ihre Vermutung zu überprüfen. Das hätte sie sich eigentlich sparen können. Denn ein gut gefüllter Kühlschrank sah anders aus. Trotzdem war er nicht leer. Ein paar Bananen lagen in dem Fach für Obst und Gemüse. Die berühmte Schnitte mit Milchcreme, die Marie so liebte, und ein paar Salamisnacks, als Brezeln geformt. Auch das aß Marie gerne. Elisabeth deutete ein Lächeln an. Schon die geringe Essensauswahl zeigte, dass Julia ihre Tochter über alles ging.
Es war Ende des Monats und Julias weniges Geld war bereits aufgebraucht. Bis wieder Sozialhilfe auf Julias Konto einging, dauerte es noch.
Elisabeth kramte ihr Handy aus ihrer Handtasche und tippte die Nummer der Bereitschaftsmutter ein. Obwohl sie die Nummer glücklicherweise nicht so oft brauchte, kannte Elisabeth sie auswendig.
Das Freizeichen erklang. Jetzt gab es kein Zurück mehr, wurde Elisabeth schmerzlich bewusst. Alles würde seinen Weg gehen. Dieser war für sie damit beendet, Marie einer fremden Frau zu überlassen. Tags drauf würde sie kurz telefonieren, ob sich das Mädchen in der Übergangsfamilie gut eingefunden hatte. Dann würde Elisabeth das Ergebnis notieren, einheften und Maries Schicksal als Fallnummer auf dem Ordner wieder in den Aktenschrank stellen. Irgendwann würde sie erfahren, dass Marie durch einen Gerichtsbeschluss nicht mehr zu ihrer Mutter dürfe. Vernachlässigung würde als Grund genannt werden. Oft lief es so. Natürlich hatten diese Kinder viel weniger als Kinder gutsituierter Eltern. Doch war es wirklich Vernachlässigung, weniger zu besitzen? Vernachlässigung war ein dehnbarer Begriff. Einer, der viel Interpretationsspielraum bot. Doch im Volksmund wurde oft nur das Materielle zugrunde gelegt. Vernachlässigung, weil Julia ihrer Tochter keine Delikatessen bieten konnte? Aber sie hatte zu Essen und sie konnte in der Tafel einkaufen. Marie jedoch erfuhr Liebe. Hatten das alle? Selbst die Besserverdienenden? Die höhere Gesellschaftsschicht? Viel öfter sollte das geprüft werden. Die Besserverdienenden konnten sich mehr leisten. Bedeutete das, es gab bei dieser Gesellschaftsschicht keine Vernachlässigung? Fast entschuldigend wird da ein Fehlverhalten aufgrund emotionaler Vernachlässigung mit Verwöhnung umschrieben. Das klang gut. Das klang nach einem Leben in Überfluss und wurde bestenfalls gerügt. Schwerwiegende Konsequenzen wie die Entnahme des Kindes aus der Familie, wie es die Menschen aus der unteren Schicht erdulden mussten, folgten nicht.
Oft waren es jedoch diese Reichen, die des lieben Geldes und der Karriere willens, bei ihren Kindern mehr emotionalen Schaden anrichteten, wenn sie mit Spielwaren statt mit Aufmerksamkeit und Liebe überhäuft wurden. Elisabeth verurteilte das nicht. Wohl aber, wenn diese Gesellschaftsschicht glaubte, sie seien die besseren Eltern, weil sie mehr bieten konnten und mehr Intellekt besaßen als Menschen wie Julia. Wer entschied, was besser für einen Menschen war? War es wirklich Vernachlässigung, wenn Julia viel entbehren musste und trotzdem versuchte, alles für ihre Tochter zu geben? Julia gab ihrer Tochter Wärme, Nähe, Anerkennung und Liebe. Es war mehr als nagelneue Bücher, als vier Urlaubsreisen im Jahr. Das war keine Vernachlässigung. Das war das Leben, das viele Kinder und Erwachsene, sogar alte Menschen leben mussten, weil sie nie eine Chance im Leben hatten. Und mit genau der Begründung, dass deren Nachkommen eine Chance erhalten sollen, werden diese Kinder beobachtet. Damit entstand Leid, Neid und Missgunst, Hass und Wut. Natürlich gab es genauso viele Fälle, in denen nicht anders gehandelt werden konnte. Da mussten die Kinder aus den Familien genommen werden, damit die seelische und körperliche Qual beendet wurde. Wenn Gewalt herrschte, wenn gehungert werden musste. Schlichtweg, wenn die Grundbedürfnisse nicht befriedigt wurden. Das war Vernachlässigung. Aber nicht bei Julia und Marie. Julia allerdings war auffällig geworden, bekam einen Stempel verpasst und war deshalb in eine Schublade gesteckt worden. Diese Schublade hatte keinen Griff mehr. Julia blieb darin gefangen. Es gab kein Entkommen mehr. Es war als hefteten Etiketten an ihr. Unfähig. Unterschicht. Dumm. Vorbestraft. Diebin. Asozial. Wertlos. Somit gehörte sie zur Randgruppe und diese war gleich Risikogruppe. Ein Mensch, dem man besser aus dem Wege ging und mit dem man nur in Berührung kam, wenn man seine gönnerhafte Seite betonen wollte. Mit einer Spende für diese Bedürftigen an Weihnachten.
Viele Jahre lang war Elisabeth von der Wichtigkeit und vor allem der Richtigkeit ihrer Arbeit überzeugt. Sie freute sich, wenn es ihr gelang, durch Unterstützung eine Familie vor dem Absturz zu bewahren. Wenn es ihr gelang, durch einfache Hilfemaßnahmen Prävention zu leisten. Am meisten freute sich Elisabeth, wenn sie nach Jahren erfuhr, welchen guten Weg ihre Schützlinge gegangen waren. Sie hatten ihren Platz im Leben gefunden. Elisabeth glaubte an ihre Arbeit, noch mehr an die Rechtsprechung, die selbst bei schweren Fällen teils milde Urteile aussprach. Eben um nicht gleich aufs Abstellgleis gefahren zu werden. Doch irgendwann hatte Elisabeth gelernt, wie breit auslegbar die Gesetzgebung war und welch ein Drahtseilakt es für die Mitarbeiter war, zu agieren. Wenn es in irgendeinem Bundesland zu einer familiären Tragödie gekommen war, dann wurde den Ämtern Versagen attestiert. Schließlich wussten die Verantwortlichen um die sozialen Probleme der Betroffenen. Die Politik und die Medien wurden laut. Der Strick für die Mitarbeiter und Sozialarbeiter an den Jugendämtern wurde enger. Es wurden härtere Vorgehensweisen gefordert. Lieber vorsichtshalber ein Kind zu schnell aus seiner Ursprungsfamilie nehmen, als ein Risiko eingehen. Darauf achteten dann auch die Vorgesetzten. Leider wurde dabei ausgeblendet, dass diese „Inobhutnahme“, wie es nüchtern im Fachjargon hieß, bereits Leid und Schaden verursachte. Nicht nur, dass die Kinder, die trotz allem an ihren Eltern hingen und diese liebten, verunsichert und verängstigt wurden. Auch das Vertrauen wurde gebrochen. Manchmal sogar irreparabel, je nachdem wie häufig der Wechsel zu Pflegefamilien war. Denn nicht immer harmonierten Kind und Pflegefamilie. Die leiblichen Eltern wurden weiterhin stigmatisiert und um das Kind entstand ein regelrechter Kampf über das dauerhafte Bleiberecht zwischen Eltern und Pflegeeltern. Die illusionäre Entscheidung „Zum Wohl des Kindes“ war gescheitert. Einfach vorsorglich ein Kind aus seiner Ursprungsfamilie zu nehmen, betrachtete Elisabeth als brandgefährlich, erhielten sie aus dem Grund des vorschnellen Handelns keine Hinweise mehr, wenn ein Eingreifen wirklich erforderlich war. Elisabeth hatte sich deshalb immer dafür eingesetzt, die verzweifelten, oft schlichtweg nur heillos überforderten Eltern zu begleiten. Bei den Hilfesuchenden, die noch sozialisiert werden konnten. Das war immerhin die Mehrheit der Fälle. Für alle anderen war es ohnehin zu spät. Leider musste sich Elisabeth eingestehen, dass es auch bei den sogenannten hoffnungsvollen Fällen genug gab, die umkippten. Menschen, die auf einem guten Weg waren und dann regelrecht ausflippten. Das Unglück geschah. Ein kleiner Funken genügte, damit diese Menschen sich selbst die winzige Chance nahmen, auf dem Abstellgleis, der Straße oder im Gefängnis landeten.
Auch das hatte Elisabeth erlebt. Eine junge Frau, die sie betreut hatte und für die sie fast ihre Hand ins Feuer gelegt hätte. Sie saß ihre Strafe noch immer ab.
Eigentlich hätte es Elisabeth eine Warnung sein müssen. Was wusste sie wirklich von Julia? Menschen, die sich in die Enge getrieben fühlten, flüchteten. In Lügen. Dennoch wischte sie ihre Bedenken beiseite. Nicht bei Julia, redete sich Elisabeth ein.
Bitte, nimm nicht ab, flehte sie innerlich, während ein Freizeichen nach dem anderen ertönte. Sie wartete noch zwei Signale ab und drückte das nicht zustande gekommene Gespräch wieder weg, bevor sich die Bereitschaftsmutter doch noch meldete. Dass sie damit noch nichts verhindert hatte, da Cordula Braun jederzeit zurückrufen könnte, verdrängte Elisabeth. Sie würde einen Rückruf nicht annehmen, entschied sie, während sie vor dem Schrank stand und ein paar Kleidungsstücke für Marie suchte.
„Möchtest du dein Elsa Kleid mitnehmen?“ Elsa war die Schneekönigin. Es war Maries Lieblingsfilm.
Zum Fasching hatte ihr Julia das Kleid besorgt. Natürlich war es gebraucht. Aber Marie erkannte den Unterschied nicht und hatte sich wie eine Schneekönigin gefreut. Elisabeth musste über diese Metapher lachen.
Marie schüttelte den Kopf. Ihre Puppe hielt sie noch immer fest im Arm.
„Ich will zu meiner Mama“, flüsterte Marie.
Elisabeth nickte. „Wir fahren vorher ins Krankenhaus und besuchen deine Mama kurz. Sie sorgt sich sicher schon.“
Marie lächelte.
„Das Elsa Kleid will ich mitnehmen“, sagte Marie zaghaft. Elisabeth strich Marie liebevoll über ihr rotes Lockenköpfchen. Welche Ängste musste das Kind gerade erleben. Marie wusste nicht, was mit ihrer Mutter war und was mit ihr selbst geschehen würde.
Das Handy klingelte.
Elisabeths Hände zitterten, als sie das Handy nahm und die Nummer las.
Erleichtert atmete sie auf. Es war ihre Mutter. Elisabeth grinste, drückte den Anruf jedoch weg. Was hatte ihre Mutter wieder vergessen, was Elisabeth auf dem Nachhauseweg unbedingt noch besorgen sollte? Eltern waren immer besorgt, egal wie alt die Kinder waren.
Das bestärkte Elisabeth in ihrem Entschluss, Marie mit zu sich zu nehmen. Kurzerhand schaltete Elisabeth ihr Smartphone ganz aus. Wenn sie nicht erreichbar war, konnte sie kein Klingeln hören und brauchte kein schlechtes Gewissen haben, nicht nach Dienstvorschrift gehandelt zu haben. Vor allem hatte sie dann eine Entschuldigung, wenn sie morgen von ihrer Entscheidung berichtet. Besondere Umstände erforderten besondere Handlungen.
Nachdem Elisabeth ein paar Kleidungsstücke in die Tasche gepackt hatte, holte sie noch Maries Kindergartentasche und wollte dem Mädchen gerade in die Jacke helfen.
„Ich kann selber“, sagte Marie und zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu. Anschließend suchte sie Elisabeths Hand als wäre das der Garant für Sicherheit.
Ihre Puppe hielt Marie in der anderen Hand fest, als sie mit Elisabeth zum Auto ging. Mit dem Wohnungsschlüssel, den Elisabeth vorher von dem Schlüsselbrett nahm, schloss sie zunächst Julias Auto auf, um den Kindersitz zu holen. Eine halbe Stunde später waren sie am Krankenhaus angekommen.
Julia starrte aus dem Fenster, als Elisabeth mit Marie das Zimmer betrat.
Noch bevor Julia etwas sagen konnte, hatte sich Marie von Elisabeths Hand gelöst und war zu ihrer Mutter gerannt.
„Morgen schon werde ich entlassen. Ich habe keine Gehirnerschütterung“, sagte Julia. Sie schwieg. Was sie wirklich fragen wollte, kam nicht über ihre Lippen.
„Marie wird die Nacht bei mir zu Hause verbringen. Die Bereitschaftspflege war nicht erreichbar.“
Die erwartete Erleichterung blieb aus, wunderte sich Elisabeth.
„Was war passiert?“, fragte Elisabeth daraufhin.
„Wir wollten unseren Wocheneinkauf erledigen. Einer von Maries Bausteinen lag auf dem Boden. Ich hatte ihn nicht liegen sehen und bin umgeknickt.“
Elisabeth nickte. An Bausteine konnte sie sich nicht erinnern, hatte allerdings auch nicht darauf geachtet und dass man deshalb nicht ohnmächtig wurde, musste auch Julia klar sein. Sie wollte nicht erzählen, was wirklich passiert war. Noch nicht. Vielleicht auch nie. Elisabeth seufzte. Ihr fiel kein Grund ein, der auf eine Bedrohung schließen ließ, weshalb sie die Ausrede akzeptierte.
„Es ist weiter nichts passiert“, flüsterte Julia.
Damit die beiden ein paar Minuten für sich hatten, verließ Elisabeth das Krankenzimmer und suchte die diensthabende Schwester…….
Fortsetzung folgt…..