„Das kannst du aber nicht. Dazu müsstest du alles wissen. Du bist weder allwissend, noch der Retter. Du bist nicht Gott. Du kannst ihnen Hilfestellung in dem dir zustehenden Rahmen geben, aber du kannst sie nicht zwingen, nach deinen Vorstellungen zu leben. Weil nicht einmal du weißt, ob deine Vorstellungen richtig sind. Es sind die für dich richtigen Vorstellungen. Aber sind sie deshalb für die anderen gut? Doch genau das erwartest du. Du möchtest, dass deine Schützlinge so leben, wie du es für gut befindest. Du möchtest nicht, dass sich Patrick um Marie und Julia kümmert. Du möchtest, dass sie dich als Freundin haben, als die einzige Person, an die sie sich in der Not wenden können. Du willst Macht. Und du möchtest bestätigt werden. Das ist Eitelkeit“, schimpfte Anneliese.
Elisabeth war den Tränen nahe. Warum drosch heute jeder auf sie ein? Viele Jahre hatte sie mehr als nur ihren Dienst erledigt. Wie viele Überstunden sie ohne Entgelt geleistet hatte, war den meisten ihrer Klienten genauso egal wie ihren Vorgesetzten.
„Du bist unfair. Ich will meinen Schützlingen helfen“, verteidigte sich Elisabeth.
„Das tust du aber nicht. Du kannst ihnen deine Hand reichen, um ans Ufer zu kommen. Aber du reichst ihnen die Hand und ziehst sie dann in deine Richtung weiter. Das ist keine Hilfe. Das ist Nötigung. Selbst Gott hat dem Menschen den freien Willen gegeben. Wie kommst du dazu, den dir fremden Menschen deinen Willen aufzudrücken?“, fragte Anneliese.
„Wird das ein Verhör? Außerdem habe ich das bereits beantwortet. Ich will ihnen helfen.“ Elisabeth verschränkte nun bockig die Arme. Sie fühlte sich angegriffen und wollte damit eine Barriere schaffen.
„Warum diesen Menschen?“
„Weil sie Hilfe brauchen“, sagte Elisabeth.
„Wenn du so denkst, dann bist du deiner eigenen Ideologie auf den Leim gegangen. Du behauptest damit, nur die angebliche gesellschaftliche Unterschicht braucht Hilfe. Deine Hilfe. Was ist mit den reichen Menschen? Brauchen Sie keine Hilfe? Was ist mit den alten Menschen, die einsam sind? Brauchen Sie keine Freundin, weil sie nicht gesetzesauffällig geworden sind? Was ist mit den verbitterten Menschen? Brauchen Sie auch keine Hilfe, weil sie dem Amt nicht bekannt sind? Wie viele Menschen begehen Unrecht, ohne dass es bekannt wird? Brauchen diese Menschen keine Hilfe? Denn deiner Logik zufolge begehen nur die Randgruppen Unrecht, werden auffällig und brauchen deshalb Hilfe. Nein, liebe Elisabeth. Aus deinem hehren Ziel, den Menschen zu helfen, ist Unrecht geworden. Du urteilst und richtest nach deinen Gesetzen. Diese gibt es aber nicht. Nicht auf Erden und schon gar nicht im Himmel und zu urteilen, steht dir ebenfalls nicht zu“, sagte Anneliese sanft.
Dem Gesagten konnte Elisabeth nichts entgegensetzen.
Trotzdem versuchte sie sich zu rechtfertigen.
„Meine Schützlinge haben Hilfe gesucht. Das ist der Unterschied.“
Anneliese schüttelte energisch den Kopf.
„Deine Schützlinge sind auffällig geworden. Sie sind bei einer Tat erwischt worden. Das ist kein Hilferuf. Die Hilfe wurde staatlich angeordnet. Ich sage nicht, dass es schlecht ist. Es ist notwendig, da stimme ich dir zu. Unrecht, Leid, Verletzungen und Schmerz, das darf nicht unbeantwortet bleiben. Doch es gibt auch andere Menschen, die ebenso Unrecht begehen, die Leid verursachen, die sich verletzen. Sie fallen nur nicht auf. Sie leben getarnt. Sie haben mehr Macht, sodass sich niemand etwas zu unternehmen traut. Und doch brauchen sie Hilfe“, meinte Anneliese.
„Da stimme ich dir sogar zu. Trotzdem gibt es einen Unterschied. Die Reichen und Mächtigen können sich einen Psychologen leisten. Die ärmere Schicht nicht. Sie bekommen deshalb einen Sozialarbeiter an ihre Seite. Ich bin praktisch gesehen der Psychologe der Armen“, meinte Elisabeth und fühlte sich wieder etwas wohler.
„Wenn Psychologen und Sozialarbeiter wirklich Abhilfe schaffen könnten, dann gäbe es keine Probleme, keine Sorgen, kein Unrecht mehr. Doch diese schöne Vorstellung funktioniert nicht, weil es Menschen mit eigenem Willen sind. Du hattest zudem keine Berechtigung mehr, dich einzumischen. Somit bleibt dein Handeln Unrecht. Weil du den Menschen etwas überzwingst, was nicht ihren Vorstellungen entspricht. Genauso ist und bleibt es beim Rest der Welt, selbst wenn jeder rund um die Uhr einen Sozialarbeiter oder Psychologen an seiner Seite hätte. Warum? Weil sie ebenfalls eigene Vorstellungen haben. Jeder handelt ähnlich wie du. Jeder stülpt den anderen nur seine Vorstellungen über. Was sollte sich ändern? Nichts“, sagte Anneliese.
Elisabeth überlegte.
„Weißt du, Tante Anneliese, es liegt an der Moral, die immer mehr verfällt. Manchmal habe ich das Gefühl, die Menschen sind gewissenloser geworden. Sie haben weniger Hemmschwelle, sie haben weniger Frustrationstoleranz, dafür umso mehr Egoismus und Selbstgefallen.“
Elisabeth schwieg nun. Selbstgefallen. Das musste sie sich ebenfalls ankreiden lassen.
„Die Menschen brauchen mehr Gott in ihrem Alltag“, sagte Anneliese.
„Glaub mir, Tante Anneliese, das habe ich schon probiert. Aber das ist nicht einfach. Meine Schützlinge kannst du in zwei Kategorien einteilen. Entweder sie haben von Gott noch nie etwas gehört oder sie sind so verletzt worden, dass sie an seine Existenz nicht glauben können. Was nutzt ihnen Gerechtigkeit im Himmel? Wer so verletzt wurde, dem nutzt auch eine Gerechtigkeit im Himmel nichts. Sie wollen auf Erden fair und gerecht behandelt werden. Sie fordern ein Ende des Leids und Elends“, erklärte Elisabeth, die noch immer keinen richtigen Appetit hatte.
„Gott ist den Menschen zu abstrakt. Er ist nicht vorstellbar. Und Jesus fast ebenso. Er konnte ja jederzeit Wunder wirken. Das kann der Mensch nicht“, murmelte Elisabeth nachdenklich, als ihre Mutter gerade mit dem Nachtisch ins Zimmer kam.
„Ein Schokodessert für dich. Weil du das so gerne magst“, meinte Frieda und stellte ihrer Tochter ein Käsesahne Schoko Dessert im Glas auf den Tisch.
„Du bist die beste Mutter“, lobte Elisabeth und probierte gleich einen Löffel voll.
„Das fehlt meinen Schützlingen ebenso. Eine Mutter, die sich kümmert. Die ihren Kindern auch mal einen Wunsch von den Augen abliest. Oder einen Vater, der sich Zeit nimmt, die Hausaufgaben durchzusehen. Was meine Schützlinge brauchen, gibt es nicht. Sie brauchen ein greifbares Vorbild. Es müsste einen Menschen geben, der all ihre Probleme selbst erlebt hat und dennoch zuversichtlich und gerecht bleibt. Ein Mensch, der weiß, wie es ist, wenn man als Lügner bezeichnet wird, wenn man Schmerz erfahren muss, wenn man ohnmächtig zusehen muss, wenn einem selbst oder einem Familienmitglied Unrecht, Leid und Elend passieren. Ein Mensch, der weiß, wie es anfühlt, wenn man ein Kind verliert, wenn Menschen ihre Macht missbrauchen und quälen. Ein Mensch, der nicht urteilt und verurteilt, ein Mensch, der die Bedürfnisse der Menschen kennt, ein Mensch, der tröstet, der Freund ist und trotz allem Negativen das Richtige tut.“
Elisabeth schenkte etwas Rotwein nach und nippte an ihrem Glas. Wein passte weniger gut zu dem Dessert, stellte Elisabeth fest.
„Einen solchen Menschen gibt es nicht“, meinte sie dann.
„Gibt es nicht oder fällt dir nur nicht ein?“, fragte Anneliese. Sie griff nach einer blauen Tasche, die sie an der Stuhllehne befestigt hatte und zog ein Bild heraus.
„Maria. Maria ist der Mensch, auf den alles zutrifft, was du nun aufgezählt hast. Sie hat all das erlebt, erlitten und ist trotzdem gerecht geblieben. Sie ist der Freund, nach dem sich die Menschen sehnen. Sie ist die Mutter, die den schlimmsten Verlust erlitten hat. Die Frau, die trotzdem weiß, was zu tun ist. Sie vertraut und sie führt zu Gott“, sagte Anneliese.
Elisabeth starrte das Marienbild an. Wie hatte sie Maria vergessen können? Warum war sie nicht auf die Idee gekommen?
„Es stimmt, Tante Anneliese. Maria war der Mensch, der all den Schmerz und die Probleme durchlebt hat. Und es kann gut sein, dass sich die Probleme und Sorgen der modernen Menschen nicht unterscheiden. Die Situation ist anders. Aber wie ich schon gesagt habe. Sie war der Mensch. Sie lebt nicht mehr“, meinte Elisabeth.
Nun verzog Anneliese den Mund.
„Dann bring den Menschen Maria, damit sie wieder lebt“, forderte die Nonne.
Elisabeth lehnte sich zurück. Wollte sie die Herausforderung annehmen?
Als erstes würde sie Maria brauchen. Dringend sogar. Wie konnte sie nur eine Sekunde lang denken, die Menschheit zu retten? Indem sie ihnen ihre Vorstellungen überstülpte. Wie konnte sie vergessen, dass sie nichts von sich aus konnte, wenn Gott es nicht wollte?
Vor allem schämte sich Elisabeth wegen ihre Selbstüberschätzung und Überheblichkeit. Wem wollte sie gefallen? Wem wollte sie etwas beweisen? Sie hatte nur sich gefallen und wollte nur sich beweisen, wie recht sie hatte und wie sehr die Menschen auf sie angewiesen seien. Sie hatte sich selbst belogen, erkannte Elisabeth.
Wer war sie, zu glauben, ohne Elisabeth würde den Menschen nichts gelingen? Auch Julias und Maries Leben nicht. Ihr Kollege Christian hatte recht. Sie lebte in einer anderen Welt. Eine Welt, die niemandem mehr gut tat. Ihr nicht und am allerwenigsten ihren Schützlingen.
Wo ist dein Vertrauen, hatte ihre Mutter gefragt, als sie vor einer Stunde schwerfällig und am Boden zerstört ihr Zuhause betreten hatte.
Sie besaß kein Vertrauen mehr, weil sie es selbst zerstört hatte.
Elisabeth fühlte sich nun erleichtert, als würde eine große Last von ihren Schultern fallen. Da kein Mensch perfekt war, brauchte jeder Mensch Hilfe, allen voran sie selbst, befand Elisabeth. Dieses Mal wusste sie, das Richtige zu tun. Sie würde einfach allen Menschen Maria bringen. Egal welcher Gesellschaftsschicht. Egal ob sie in die Kirche gingen oder nicht. Gerade die Nicht-Kirchgänger hatten den Kontakt nötiger als alle anderen, beschloss Elisabeth. Es erschien ihr sinnvoll. Denn so hatte jeder Mensch die Möglichkeit, seine Probleme zu erzählen, ohne dass er sich einem anderen anvertrauen musste. Es war ein Experiment, gab Elisabeth zu. Aber die beste Hilfe, die ein Mensch bekommen konnte. Völlig kostenlos.
Sie war gespannt, wie Maria die Menschen verändert hatte.
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