
Leo bemühte sich, nachdenklich zu wirken. Wie gebannt starrte er daher zur Decke des Klassenzimmers. Als wäre er in hochkomplexe mathematische Strukturen versunken, sollte das wirken. Freilich wusste er, dass ihm das niemand abnahm. Jedes Mal, wenn er vom Lehrer aufgerufen wurde, stotterte er herum und wenn er doch genug Mut zu einer Antwort aufbrachte, dann war sie garantiert falsch. Seine Mitschüler lachten. „Haha, Leo ist dumm. Dümmer geht nimmer“ und so weiter waren die Sprüche, die der Zweitklässler mehrmals täglich hörte.
Einmal funkte sein Lehrer dazwischen und rügte die Mitschüler. Ob ein Mensch klug ist, erkennt man nicht an seinen Antworten, sondern an seinen Fragen, erklärte Lehrer Habicht einmal, als Leo wieder die falsche Antwort gegeben hatte. Leo war damals richtig erleichtert gewesen, dass Habicht ihn in Schutz genommen hatte. Aber das war nur oberflächlich, nur zum schönen Schein. Es war hinterhältig, denn Habicht drehte das Spiel um, nannte eine Antwort und forderte Leo auf, die richtige Frage zu stellen. Leo wurde knallrot, als er sich an diese Situation erinnerte. Die Textaufgabe würde er bis ans Ende seines Lebens nicht mehr vergessen. „Simon kauft 11 Fische für das Aquarium. 3 Goldfische und 8 kleine Zierfische.
Ein Goldfisch kostet 2 Euro, ein Zierfisch kostet 4 Euro.“ Dann mussten die Schüler passend zum Text Fragen stellen, um die Aufgaben lösen zu können. Manchmal waren mehrere Fragen möglich. Hier hätte er fragen können, was alle Fische zusammen kosten, was die Zierfische kosten oder die Goldfische kosten. Im Nachhinein war das völlig logisch. Im Moment der Schule, wurde Leo abwechselnd kreidebleich und feuerrot im Gesicht. Erst blieb er still, dann stotterte er und dann redete er nur noch Blödsinn. Meistens hätte er sich hinterher am liebsten auf die Zunge gebissen, so wie bei dieser Aufgabe, als er fragte, wie viel das Aquarium kostete. Von dem Aquarium war nie die Rede. Alle brüllten vor Lachen und Lehrer Habicht meinte nur, an der Antwort würde man erkennen, ob es Klugheit sei oder nicht. Manchmal saß deshalb da und überlegte, warum gerade er so dumm war. Es sei die Aufregung, versuchte ihn seine Mutter zu trösten. Es sei egal, er habe andere Vorzüge, hatte sein Vater erklärt.
Oft saß Leo in solchen Momenten da und überlegte, welche Vorzüge er haben sollte. Was konnte er besonders gut? So sehr er auch nachdachte, es fiel ihm nichts ein. Hört auf, hört auf, hört endlich auf zu lachen! In Leos Kopf lief dieser Appell in Dauerschleife. Das Lachen der Mitschüler ebbte wieder ab. Leo traute sich trotzdem nicht aufzuschauen, hatte den Kopf noch immer tief über sein Rechenheft gebeugt. Selbst Lehrer Habicht hatte gelacht. Aber der hatte ihn eh auf dem Kieker. Endlich wurde Leo vom Schulgong erlöst. Er hatte es nicht eilig, seine Tasche zu packen. Sollten die anderen ruhig vor ihm das Schulgebäude verlassen. Er trödelte so lange, bis sie sicher schon weg waren und er ohne weitere Belästigung die Schule verlassen konnte.
Auf dem Heimweg schoss er ein paar Ästchen beiseite. Gab es eine andere Schule für ihn? Würde er da auch wieder ausgelacht werden? Immerhin änderte ein Schulwechsel nichts an seinem Verstand. Aber der Lehrer kann möglicherweise besser erklären und wenn du nicht ständig ausgelacht wirst, musst du keine Angst mehr haben und kannst wieder denken, hatte seine Mutter erklärt. Der Gedanke an einen Schulwechsel gefiel Leo immer besser. Er gefiel ihm so gut, dass er wieder zuversichtlich war und seinen Blick nicht mehr auf den Boden richtete, sondern auf die Umgebung. Er mochte die Natur, kannte sich mit den Pflanzen, Bäumen und Tieren aus. Die ältere Frau aus dem dunkelblauen Haus kam ihm entgegen, schwer an ihren Taschen schleppend. Wie selbstverständlich fragte Leo, ob er ihr helfen konnte. Kurz darauf hatte er eine ihrer Einkaufstaschen in der Hand und lief mit der alten Frau zurück. Dann würde er eben eine Viertelstunde später nach Hause kommen. Helfen. Das war sein Vorzug, fiel Leo nun ein. Helfen? Das war kein Können. Das tat man einfach. „Ich kann anderen gut einen Lolly geben“, sagte Leo laut und lachte. „Wenn das Habicht gehört hätte. Ich kann anderen gut einen Lolly geben. Habicht würde sagen, daran erkennt man, wie dumm Leo ist. Erstens falsch formuliert, zweitens ist das kein Vorzug, kein Können. Bald ist Elternabend. Mal sehen, was deine Eltern zu deiner Verteidigung zu sagen haben.“ Leo äffte Habicht nach. Tonfall und Mimik stimmten.
Leo überlegte weiter. Er konnte gut, …? Was konnte er gut? Nichts konnte er. Oder? Ja, er konnte gut helfen. Half den alten Menschen, wenn sie schwer zu schleppen hatten, half, wenn andere krank waren und jemanden für Erledigungen brauchten und er war großzügig und teilte seine Süßigkeiten oder Pausenbrote. Letzte Woche erst hatte Leo Liam ein belegtes Brötchen geschenkt, weil Liam kein Essen von zu Hause mit bekam. Und er hatte dem kleinen Mädchen eine Wasserbombe gefüllt, weil sie auch gerne werfen wollte. Es war seine letzte Wasserbombe gewesen. Immer mehr dieser Situationen fielen Leo ein und er fühlte sich wieder besser. Bis zum Sonntag. Da war Kirchweih und er freute sich darauf.
Seine Großmutter begleitete ihn und das war gut, denn sie war in Spendierlaune. Erst durfte er Autoscooter fahren, dann durfte er losen und zu guter Letzt deckte er sich am Süßigkeitenstand mit Leckereien ein.
„Das macht 2,50 und 4 Euro und 3 Euro und nochmal 2,30 Euro. Na, junger Mann?“, brummte der Schausteller.
Leo errötete. Nicht auch noch am Wochenende der Zehnerübergang, den er nicht beherrschte. Er konnte ihn nicht. Er konnte sich das nicht vorstellen und es waren zu viele Beträge und Komma auch noch dazu. Leo war kurz dran, die Ware zurückzugeben. Er schämte sich so, weil er mit seiner Dummheit auch seine Eltern beschämte. Habicht erwähnte ja jedes Mal den Elternabend.
Leo hielt seine Süßigkeitentüten fest in der Hand, seine Ohren dröhnten. Was der Schausteller zu seiner Oma sagte, konnte Leo nur erahnen.
„Hat er gesagt, dass ich dumm bin?“
Leos Oma schüttelte den Kopf.
„Aber ich habe dumm gehört“, beteuerte Leo.
Leos Oma legte ihre Hände auf seine Schultern und schaute ihn fest in die Augen.
„Er hat gesagt, dass du ein großes Herz hast und jeder, der das nicht sieht, dumm ist“, sagte Leos Oma.
Leo atmete erleichtert auf. In einer seiner Tüte befanden sich Schokobonbons in Herzform. Diese Tüte öffnete er und hielt sie lächelnd dem Verkäufer hin.
„Möchten Sie auch ein Herz?“, fragte Leo freundlich.
„Da kann ich wirklich eins gebrauchen“, sagte der Verkäufer beschämt.
Text: Petra Malbrich