Die Wahrheit

Sag einfach die Wahrheit, dann wird alles gut. Von klein auf haben ihm seine Eltern und Großeltern das eingetrichtert. Doch was war die Wahrheit? Vincent saß auf der Liege in der Jugendstrafanstalt und geriet ins Grübeln. Die Wahrheit wollte niemand hören. Sie konnte jederzeit geändert werden, je nachdem wer sie erzählte und wem die Wahrheit in irgendeiner Weise schaden würde.

Heute Nachmittag sollte er vor Gericht aussagen. Doch was? „Die Wahrheit“ sagten seine Eltern. War seine Sicht die Wahrheit? Für ihn war sein Erleben die Wahrheit. Doch mit dieser würde er nun vor allem sich schaden. Heute weiß er, Sandro hatte alles erlogen.

Vor fünf Monaten hatte begonnen. Vincent wurde gerade in einer Fabrik an den Maschinen angelernt. Es war keine schwere Arbeit, trotzdem musste er konzentriert und genau arbeiten. Zwischendurch war Leerlauf, sodass sie raus auf das Gelände gehen konnten, um eine Zigarette zu rauchen.

Vincent ging meist allein. Er wollte keinen Kontakt. Die meisten Männer hier waren ihm zu draufgängerisch. Er konnte nicht mitreden, hatte von keinen Saufgelagen zu erzählen, auch von keinen anderen Veranstaltungen. Er blieb meist zu Hause, liebte das ruhigere Leben, las gerne ein Buch, spielte Schach oder zeichnete Comics. Sein Künstlerdasein reichte aber nicht zum Leben, weshalb er sich immer wieder mit allen möglichen Jobs den Lebensunterhalt verdiente.

Es war windig gewesen. Vincent hatte in der Ecke gestanden, geraucht und sich eine Fortsetzung seines Comics ausgedacht, als ein junger Kollege vor ihm stand.

„Hast du mal?“, fragte Sandro und streckte die Hand aus, als Vincent ihm das Feuerzeug in die Hand drückte.

„Scheiß Kälte. Fast so kalt wie die Stimmung in der Halle“, meinte Sandro.

Vincent grinste. Eine Antwort hatte er nicht gegeben. Die Stimmung war ihm egal und er wusste nicht, ob Sandro ihn nur aushorchen wollte. Er brauchte den Job ein paar Monate lang. Bis dahin würde er sein neues Comic fertig haben und vom Verkauf ein paar Monate leben und irgendwann vielleicht den Lebensunterhalt ganz von seiner Kunst bestreiten können.

Viel hatten sie sich nicht zu sagen gehabt. Vincent hatte seine Zigarette ausgedrückt und war zu seiner Maschine zurückgetrottet und wieder ins seine Tagträume versunken.

Laute Schimpfwörter hatten ihn aus seinen Illusionen geweckt. Der Vorarbeiter hatte Sandro angebrüllt. Angeblich hatte er wieder etwas falsch montiert oder ungenau gemessen. Sandro hatte den Kopf eingezogen und immer wieder den Kopf geschüttelt. Es täte ihm leid, hatte Sandro versucht, sich zu wehren, doch der Vorarbeiter hatte immer weiter geschrien und einmal hatte er sich so drohend vor Sandro aufgebaut, dass Vincent fürchtete, er würde dem Kollegen eine ins Gesicht schlagen.

Der Chef war nicht da gewesen, doch zwei Tage später erlebte Vincent dasselbe erneut. Dieses Mal war der Chef im Haus gewesen, hatte jedoch nichts unternommen. Am besten wäre, er hielt sich heraus, dachte Vincent.

Als er sich wieder auf das Gelände geschlichen hatte, um eine Zigarettenpause einzulegen, gesellte sich Sandro wieder dazu.

„Will nicht aufdringlich sein. Aber ich habe keinen Bock mehr, da drinnen zu bleiben. Heiko ist so unfair, ein richtig mieser Typ“, sagte Vincent. Heiko, das war der Name des Vorarbeiters.

„Hat er öfter solche Anfälle?“, hatte Vincent gefragt.


Sandro hatte genickt.

„Meist bekommen die Neulinge seinen Unmut zu spüren.“

Vincent hatte geschwiegen.

„Einfach nicht provozieren lassen.“


Doch bald sollte sich Sandros Prophezeiung erfüllen und Vincent konnte sich selbst ein Bild von Heikos Willkür machen.

Vincent war die dritte Woche im Betrieb, als Heiko zu ihm herüber geschlendert kam, stehen geblieben war, den Kopf hin und her gedreht hatte als würde er so alles inspizieren können und hatte ihn dann schweigend angestarrt, nur mit den Schuhen auf den Boden getreten, wie wenn das den Takt vorgegeben hätte.

„Du kommst dir wohl besonders schlau vor“, hatte Heiko dann mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht gesagt.

Vincent hatte nicht gewusst, was der Vorarbeiter von ihm wollte und hatte deshalb nur ahnungslos mit den Schultern gezuckt.  

„Frech werden auch noch, Bürschchen.“


Vincent hatte die Augen weit aufgerissen.

„Könnten Sie bitte deutlicher werden?“


„Deutlicher soll ich werden? Wie deutlich hättest du es gerne“, hatte Heiko geantwortet und mit der Faust gedroht.

Vincent war zusammengezuckt.

„Ertappt! Mir hat noch keiner etwas vormachen können. Mitkommen Bürschchen“, sagte Heiko und hatte Vincent am Mantelkragen gepackt und ins Chefbüro gezerrt.

Noch bevor Herbert „Herein“ antworten konnte, hatte Heiko die Tür geöffnet und Vincent ins Büro gezogen.

„Er war es“, sagte Heiko.

Herbert hatte ihn fünf Minuten lautlos gemustert.

Vincent wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Wenn er nur wüsste, was ihm vorgeworfen wurde.

„Du also hast das Geld entwendet. Wofür hast du das gebraucht?“, hatte Herbert leise gefragt.

„Welches Geld? Ich habe nichts entwendet. Ich verdiene hier doch mein Geld.“ Vincent war entsetzt über die haltlosen Vorwürfe.

Doch Herbert hatte den Kopf geschüttelt und mit einer wegwischenden Handbewegung angedeutet, Vincent solle den Mund halten.

„Wenn ein brotloser Künstler plötzlich mit Geld um sich wirft, dann ist etwas faul. Das hätte ich mir gleich denken können“, meinte Herbert.

„Wie? Was? Ich weiß nicht, was Sie meinen“, stammelte Vincent.

„Leugnen ist zwecklos. Ich habe ihn auf frischer Tat erwischt“, beteuerte Heiko.


Der hatte doch einen an der Latte, dachte Vincent.

„Sandro hat uns alles erzählt. Deine Großzügigkeit in den letzten Wochen und ich habe vorhin mit eigenen Augen gesehen, wie du in die Geldkassette gelangt hast“, betonte Heiko.

Vincent schüttelte den Kopf als würde er dann wieder nüchtern werden.

„Ich habe auf dem Flohmarkt ein paar meiner Comics verkauft und Sandro Zigaretten geliehen und einen Zehner, weil er seinen Geldbeutel vergessen hatte und sich noch einen Fahrschein kaufen musste.“

„Hast du Beweise für den Verkauf deiner Heftchen?“

Vincent schüttelte den Kopf, selbst dann noch, als Herbert bereits die Polizei anrief.

Natürlich waren seine Fingerabdrücke auf der Kassette gefunden, denn er hatte dort den 50  Euro Schein gewechselt, um Sandro die zehn Euro für den Schein zu geben.

Doch dieser stritt ab, das Geld erhalten zu haben und Heiko bleib bei seinen Lügen.


Ein anderer Kollege meinte flüsternd, die beiden würden diese Nummer öfter bei Neulingen abziehen.

Es würde Aussage gegen Aussage stehen. Wer das Geld  wirklich entwendet hatte, wusste niemand. Der Verdacht, dass es Sandro und Herbert waren, lag nahe.

Nun sollte er also seine Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die niemand glaubte. Egal, ob er die Wahrheit sagte. Er hatte keine Beweise und Beweise waren manipulierbar, sie konnten erfunden werden oder vernichtet werden.

Die Wahrheit war immer das, was jemand glauben wollte. Wahr war, was dem eigenen Erfolg diente, selbst wenn dafür die Wahrheit zur Lüge gemacht wurde. Die echte Wahrheit kannte nur Gott. Doch das spielte solchen Menschen keine Rolle.

Foto und Text: Petra Malbrich

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