Der Wichtel

Taubengroße Körner hagelte es herunter. Johannes schaltete die Scheibenwischer aus. Hoffentlich war der Hagelschauer gleich vorbei, sonst würde er ewig im Auto sitzen. Der Regen reichte schon. Er hasste dieses Wetter, wenn der Herbst mit seinem farbenfrohen Leuchten in die verregneten trüben Tage überging und Hoffnungslosigkeit verbreitete. Wie sollte da gute Laune und Vorfreude auf die Adventszeit aufkommen? Überhaupt war das eher ein Fest für Frauen, fand Johannes. Überall Schmuck und Lichterglanz im Haus, am Haus und auf den Straßen. Zugegeben, das Funkeln durchbrach die Tristesse, das war es aber schon. Doch das war noch eine Woche entfernt.

Es schien nicht aufzuhören mit dem Regen. Johannes schlug mit der Hand auf das Lenkrad, zog die Mütze seines Anoraks hoch, sprang aus dem Auto und sprintete in den Hausflur des Mietshauses, in dem er wohnte. Der Aufzug streikte schon wieder, stellte er genervt fest. Es war ein Tag, von dem man eigentlich nur hoffte, dass er bald zu Ende war, denn eine Katastrophe jagte die nächste. Die schien in Form einer Tüte sogar an seiner Wohnungstür zu hängen. Bevor er die Tür aufsperrte, nahm er die Tüte ab und legte sie auf den Küchentisch. Er wollte zuerst raus aus den nassen Kleidern und ein Bier trinken. Anders konnte der Tag nicht enden, beschloss Johannes. Erst als die Nudeln in dem Wasser kochten, schaute er in die Tüte und zog ein kleines, in Geschenkpapier gewickeltes Päckchen aus der Tasche. „Für Johannes aus dem vierten Stock. Dein Wichtel“ stand auf einer Karte. „Dieser Unsinn“, nörgelte Johannes, packte das kleine Geschenk jedoch aus. Ein Riegel Schokolade war dahinter verborgen, auf ihm ein Aufkleber mit der Aufschrift: „Das macht gute Laune. Rate, wer dein Wichtel ist.“

Ein Lächeln huschte über Johannes Gesicht. Er registrierte es nicht, biss herzhaft herunter und ging in Gedanken alle Mieter durch. Die Männer konnte er wohl ausschließen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass einer von ihnen wichtelte und ausgerechnet ihm einen Gute-Laune-Riegel an die Tür hing. Dann schon eher die Familien. War irgendwann die Rede, dass im Haus gewichtelt werden sollte? Das musste an ihm vorbei gegangen sein. Oder war das auch eine Idee der Frauen im Haus? Weil es das Warten auf Weihnachten verkürzte? Das ergab eher Sinn, befand Johannes und ging in Gedanken alle Frauen im Haus durch. Da war die junge Baletttänzerin, die von Weihnachten wenig hielt. Die konnte es nicht gewesen sein. Die Frau im selben Stockwerk war Oma und hielt von den nicht christlichen Bräuchen wenig. Außerdem verschwendete sie kein Geld einfach so. Sie musste schauen, irgendwie über die Runden zu kommen und von dem wenigen Ersparten kaufte sie Geschenke für ihre Enkel. Blieb eigentlich nur die Lehrerin vom Stockwerk drüber. Johannes konnte sich gut vorstellen, dass sie mit ihren Grundschülern wichtelte, um ihnen die Adventszeit in der Schule zu versüßen. Johannes grinste.

Irgendwo hatte er Lesezeichen aufbewahrt. Die bekam er um die Weihnachtszeit immer mit den Karten von den vielen Hilfsorganisationen zugeschickt. Er nahm das Lesezeichen, legte ebenfalls einen Riegel drauf, wickelte das in das Geschenkpapier, in dem sein Riegel eingepackt war und heftete eine Notiz dran. „Lieber Wichtel, was muss ich tun, wenn ich dich erraten habe?“ Johannes rieb sich die Hände. Das Ganze begann ihm Spaß zu bereiten. Am anderen Morgen hängte er die Tüte an den Griff seiner Wohnungstür und fuhr zur Arbeit. Am Abend war er gespannt, was in der Zwischenzeit passiert war. Hatte sein Wichtel das Geschenk genommen? Lag am Ende eine Antwort vor seiner Tür? Voll Vorfreude lief Johannes die drei Stockwerke nach oben. Im zweiten Stock begegnete er der jungen Lehrerin. Arielle hieß die arme. Johannes fragte sich, warum manche Eltern ihren Kindern einen solchen Namen gaben. Da war doch vorprogrammiert, dass die Kinder gehänselt wurden. Vor allem, wenn er nicht zum Nachnamen passte. Aller. Arielle Aller. Das war schon ein halber Zungenbrecher. Kein Wunder, dass sich die Frau wenigstens während der tristen Wochen im Jahr nach Aufmunterung sehnte.

„Schönen guten Abend, Frau Aller“, grüßte Johannes freundlich, worüber Arielle überrascht zu sein schien. Taktik, dachte Johannes. Sie wollte sich nicht zu erkennen geben. Er war an seiner Wohnungstür angekommen. Tatsächlich: Es hing eine andere Tüte am Griff. Wieder lag ein kleines Päckchen in der Tüte. Auch ein Zettel klebte dran. „Wenn du weißt, wer ich bin, dann hänge mir einfach am Tag vor Heilig Abend ein Wichtelgeschenk an meine Tür. Dein Wichtel“. Johannes lächelte. Sein Wichtel war nicht dumm. Die Antwort war mit dem PC geschrieben, sodass Johannes keine Schrift sah und somit auch keine Rückschlüsse auf die Person ziehen konnte. Es konnte nur Arielle sein, überlegte Johannes, als er in der Küche am Herd stand und seinen Schokoriegel naschte. Nur sie hatte in der Arbeit Zeit und Gelegenheit, eine Antwort am PC zu schreiben. Nur ein Lehrer verließ das Haus später als er und kam früher zurück, überlegte Johannes. Er war gut gelaunt. Das Wichteln machte ihm Spaß.

Auch wenn er keinen Wichtel hatte, so wollte er doch seinen beschenken. Oder sollte er sich einfach aus dem Haus einen Wichtel erkoren? Nur wen? Johannes trat vor die Haustüre, als der kleine Leo nach unten lief. Den Kopf wie immer nach unten haltend, ein verwaschenes „Hallo“ beim Vorbeigehen sagend, den Fußball auf der Treppe trippelnd. Wie oft hatte Johannes über ihn den Kopf geschüttelt. Immerhin grüßte er noch halbwegs, was andere Jugendliche in seinem Alter nicht taten. Sollte er der Wichtel für Leo sein? Johannes überlegte hin und her, entschied dann aber, es sein zu lassen. Der Junge hatte sicher genug Spielsachen. Wenn man die Kinder zu sehr verwöhnte, war es eher schlecht für deren Entwicklung, wie sich täglich zeigte, fand Johannes. Er beschloss, einfach nur seinem Wichtel hin und wieder eine Gegenfreude zu bereiten und hängte manchmal eine kleine Aufmerksamkeit an die Tür, falls sein Wichtel wieder zuschlagen wollte.

Noch nie war die Zeit bis Weihnachten so schnell vergangen, fand Johannes. Und noch nie war er in den Wochen so gut gelaunt gewesen. Nun stand die große Auflösung vor der Tür. Er würde seinen Wichtel beim Namen nennen und ein Geschenk vor dessen Tür hängen. Worüber würde sich Arielle freuen, überlegte Johannes und entschied sich für eine Kinokarte. Wenn er Glück hatte, würde sie ihn um Begleitung bitten, hoffte Johannes. Er war gerade dabei, die Kinokarte auf eine Schachtel feiner Pralinen zu legen und das alles in einem schönen Weihnachtspapier einzupacken, als er an der Wohnungstür ein Geräusch hörte. Das musste sein Wichtel gewesen sein, dachte Johannes, sprintete zur Tür und konnte durch den Spion nur noch einen kleinen Jungen die Treppen hinunter laufend erkennen.

War das nicht Leo? Wollte er ihm einen Klingelstreich spielen, was in der Eile misslang? Johannes öffnete die Tür. Eine Tüte mit dem wohl letzten Wichtelgeschenk hing am Griff. Johannes holte die Tüte in die Wohnung und packte das Geschenk aus. Es war ein kleiner getöpferter Wichtel, der fröhlich lachte. Daneben die am PC verfasste Botschaft „Damit du im nächten Jahr nie mehr traurig bist, vor allem nicht im Herbst.“ Überrascht schaute Johannes das Werkstück an. Es sah aus wie von einem Kind geformt. Nie im Leben hatte Arielle das getöpfert. Das würde im Umkehrschluss bedeuten, dass Arielle nicht sein Wichtel war. Wer dann? War es doch Leo? Wollte er ihm keinen Klingelstreich spielen, sondern hatte das Wichtelgeschenk an die Tür gehängt? Johannes wollte sich vergewissern, bevor er einen folgenschweren Irrtum beging. Eilig lief er ein Stockwerk höher und klingelte bei Arielle. Dort erzählte er von seinen Wichtelerlebnissen und erkundigte sich nach Leo. „Leo geht bei mir in die Klasse. Er ist ein ruhiger, aber trauriger Schüler. Sein Vater starb bei einem Unfall, die Mutter muss arbeiten und hat kaum Zeit. Er ist sehr einsam, vermute ich. Wahrscheinlich sucht er einen Vaterersatz“, meinte Arielle, die diese Wichtelgeschichte einfach unglaublich fand. Nachdenklich ging Johannes in seine Wohnung zurück, holte seine Jacke, Geldbeutel und Autoschlüssel und fuhr in die Stadt.

Zuhause räumte er die Einkäufe auf und verpackte sein Wichtelgeschenk. Leise schlich er sich am Abend in den vierten Stock und hing die Tüte vor die Tür. Johannes hatte noch Schlaf in den Augen, als tags drauf, kurz nach sechs Uhr der kleine Leo an seiner Tür klingelte. „Wie hast du mich als deinen Wichtel erraten“, rief der Junge und ließ sich in Johannes Arme fallen. Johannes zuckte mit der Schulter. „Ist das wichtig“, fragte er. Leo schüttelte den Kopf. „Wichtig ist nur, dass du mit mir zu dem Fußballspiel gehst. Und danke auch für den tollen Fußball. Keiner in meiner Klasse hat diesen Ball mit allen Unterschriften“, freute sich Leo. Johannes lächelte und bevor er sich versah, stand auch Leos Mutter an der Tür, mit einer Einladung zum Essen an Heilig Abend, falls er noch nichts vorhatte. „Heuer nicht mehr. Wir wichteln erst nächstes Jahr wieder“, antwortete Johannes und nahm sich fest vor, besser vorbereitet zu sein, um Freude wieder am richtigen zu verschenken.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert