Wenn sich das Mühlrad wieder dreht

Das Leben ist nicht fair. Aber so unfair brauchte es zu ihr auch nicht sein, dachte Charlott als sie durch die hohen Grasbüschel in der Wiese zum Mühlrad lief. Wie ferngesteuert ging sie dorthin. Meide es, dort passieren seltsame Dinge, mahnte ihre Mutter immer. Doch ihre Mutter sagte viel und vieles davon war einfach erfunden. Das hatte Charlott inzwischen festgestellt. Außerdem hätte sich das ihre Mutter früher überlegen sollen. Schließlich war sie der Grund, dass Charlott nun dorthin unterwegs war. Warum musste ihre Mutter auch den großen Bruder immer bevorzugen. Charlott, mach du das, Gideon ist müde von der Arbeit. Charlott, hilf du, das ist keine Männerarbeit. Charlott, sei doch leiser, dein Bruder schläft noch. Er ist gestern spät nach Hause gekommen. Charlott, sei doch nicht so kleinlich, Gideon hat nur gespaßt. Charlott hier, Charlott da. Es reichte ihr. Doch die Krönung aller Ungerechtigkeiten passierte heute, als sie das Auto innen und außen gereinigt hatte und Gideon das Lob kassierte und dieser Idiot es nicht für nötig hielt, das richtig zu stellen. Als sie dann lautstark protestierte, machte sich dieser Affe auch noch über sie lustig und ihre Mutter lachte darüber. Nein. Damit musste Schluss sein. Sie würde zum Mühlrad laufen und vielleicht passierte etwas. Dann endlich würden sie sich um sie sorgen. Von diesen selbstmitleidigen Gedanken fühlte sich Charlott motiviert und lief immer schneller, quer durch den Wald. Sie liebte das Geräusch, wenn das Laub unter ihren Tritten knirschte und die kleinen Ästchen bei jedem Schritt knackten. Welche seltsamen Dinge passieren dort, hatte Charlott immer wieder gefragt und keine wirklichen Antworten erhalten. Dafür sei sie noch zu jung, es war Schlimmes passiert. Die Frau sei umgekommen, ob es ein Unfall war oder sie selbst Hand angelegt hatte…. Er sei ein komischer Mann. Kein Wunder, dass seine Frau so reagierte. Aber wie er war, was er tat und warum sich seine Frau deshalb etwas antat, das wurde nie beantwortet. Über das Mühlhäuschen wurde im ganzen Ort nicht geredet. Aber Charlott war fasziniert von dem kleinen Häuschen mit dem Mühlrad. Sie liebte es, dort am Ufer auf einem großen Stein zu sitzen und beim beruhigenden Plätschern des schmalen Bächleins die Gedanken schweifen zu lassen. Als sie den Wald durchquert hatte, kam sie an der Wiese an, die bergab direkt zum Mühlhäuschen führte. Charlott riss einen Sauerampfer ab, zerrieb die Blätter in ihrer Hand. Immer weiter lief sie den Hang hinab und je lauter sie das Wasser rauschen hörte, desto schneller lief sie. Was hat der Mann dann gemacht, hatte Charlott gefragt. Auch darauf hatte niemand geantwortet. Er sei weggezogen. Vielleicht musste er ins Gefängnis? Mit ihrer Freundin hatte sich Charlott schon drei Mal dorthin geschlichen. Die Fensterscheiben waren verschmutzt, von dem Staub, der sich in den Jahren auf die Scheibe gelegt hatte. Spinnweben verdeckten die Sicht. Einmal saßen Charlott und ihre Freundin Marina auf dem großen Stein, als aus dem Häuschen ein Kratzen drang. Erst waren sie erschrocken. Da niemand aus dem Haus kam, spitzten sie wieder durch die Fensterscheibe und sahen ein paar Mäuschen umher huschen. Sie prusteten laut los. Nicht weil es so lustig war, sondern um die Furcht, die sie für wenige Sekunden ausgestanden hatten, zu überspielen. Charlott atmete tief durch. Die Luft war einfach herrlich, hier am Mühlhaus. Ganz rein, frisch und klar wie der Bach und würzig wie die Tannen- und Fichtennadeln, deren Duft bis zum Haus herunter wehte. Charlott setzte sich auf den großen Stein, rollte die Strümpfe ab und ließ ihre Füße in dem eiskalten Bachwasser baumeln. Morgen bist du wieder krank. Nur Unsinn hast du im Kopf. Du willst wohl in der Schule fehlen, imitierte Charlott die Moralpredigten ihrer Mutter, die sie sich morgen wieder anhören dürfte. Stimmen hallten aus dem Wald. Charlott hielt inne. Nun lachte jemand. Es waren tiefe Stimmen. Männerstimmen. Wie bescheuert muss man sein, als Mädchen alleine so tief in den Wald zu gehen, schalt sich Charlott, die nun zu zittern begann und schnell die Strümpfe an sich raffte, aufstand und zum Mühlhäuschen lief. Sie stellte sich an die Seitenwand der kleinen Holzhütte und lugte hervor. Zwei Männer kamen den Hang herunter, auf demselben Weg, den sie vor wenigen Minuten gelaufen war. Ob sie ihr gefolgt waren? Charlott war so in ihrem Frust gefangen, dass sie keine Vorsicht walten ließ. Nicht einmal das Handy hatte sie eingesteckt, damit sich die Eltern richtig sorgen konnten. Idiotin, schimpfte sie sich und lief an die Wand gedrückt entlang, um an die Rückseite des Hauses zu gelangen. Dort hing das Mühlrad etwas windschief. Vorsichtig bewegte sie sich, den Blick nach vorne gerichtet, um die beiden Männer im Auge zu behalten. „Hat da jemand etwas ausgefressen oder warum treibst du dich alleine hier an dem Spukhaus herum“, fragte eine tiefe Stimme. Charlott erschrak, blieb wie versteinert stehen und traute sich kaum zu bewegen. Erst als sie registrierte, dass sie keine Chance hatte, zu entkommen, drehte sie sich um. Ein älterer Mann hantierte an dem Mühlrad. Sie hatte ihn vorhin nicht gesehen. Vielleicht war er da an der anderen Seite, die zum Waldrand gebaut war, beschäftigt gewesen. Charlott wollte nicht unhöflich sein, brachte jedoch keinen Ton heraus. Sie schüttelte den Kopf, um die Frage des Mannes zu beantworten. Er nickte. „Wenn du nichts ausgefressen hast, musst du ziemlich frustriert sein. Niemand kommt freiwillig und alleine zum Mühlhaus“, meinte der Mann nickend, als würde er einen Treffer gelandet haben. Hatte er auch, dachte Charlott. Sie beruhigte sich langsam und nahm allen Mut zusammen. „Woher kennen Sie das Mühlhaus?“, fragte Charlott. „Ich bin der Müller“, sagte der Mann und lachte schallend. Charlott riss die Augen auf. Wohin konnte sie fliehen? „Keine Sorge. Ich tue dir nichts. Ich bin natürlich kein Müller, aber mir gehört das Mühlhaus“, erklärte der Mann. Charlott beobachte die anderen beiden Männer, die nun am Bach entlang weiterliefen, Charlott und den Mann überhaupt nicht bemerkt hatten. Charlott überlegte kurz, ob sie den beiden hinterher rennen sollte. Das war wohl sicherer, wenn das der Müller war, der Mann, weswegen sich seine Frau etwas angetan hatte, überlegte Charlott, bereit für einen Sprint. „Du überlegst, ob du fliehen sollst“, meinte der Mann als könne er Gedanken lesen. Charlott blieb regungslos. „Ja, ich bin der Mann, über den man sich hier sicher Schauermärchen erzählt“, meinte der Mann. Charlott nickte, beobachtete den Mann jedoch ganz genau. „Hier, halte bitte den Hammer. Ich bin gerade dabei, das Rad zu reparieren, damit es sich wieder dreht wie in alten Zeiten. Aber jetzt ist eigentlich Zeit für eine Kaffeepause“, meinte der Mann. „Trinkst du schon Kaffee“, fragte der Mann mit seinem süffisanten Grinsen. „Natürlich. Ich bin 15“, betonte Charlotte und schimpfte sich wieder eine Idiotin, weil sie dem Mann so frei Auskunft erteilte. Er sollte nicht denken, dass sie Angst vor ihm hatte, dachte Charlott. „Warum erzählt man sich Schauermärchen“, fragte sie neugierig. „Weil meine Frau weggelaufen ist“, sagte der Mann. „Das ist kein Grund. Das ist Unsinn“, meinte Charlott und hoffte, erwachsen zu klingen. „Es ist aber die Wahrheit“, sagte der Mann. „Ihre Frau hat sich das Leben genommen“, meinte Charlott. „Das erzählen vielleicht die Leute. Aber es stimmt nicht. Meiner Frau war das Leben hier am Bach zu einsam. Viel zu einsam. Sie ist gegangen, hat mich verlassen“, erzählte der Mann. „Warum sind Sie dann auch weggezogen“, hakte Charlott nach. „Ich wollte es nicht wahrhaben? Ich wollte meine Frau zurückgewinnen“, erklärte der Mann. „Hat es geklappt“, wollte Charlott wissen. Der Mann schüttelte den Kopf. „Eigentlich wusste ich vorher schon, dass es nicht die Einsamkeit war, was meine Frau störte. Sie fühlte sich auch im größten Lärm einsam. Ich konnte das nicht ändern. Niemand konnte das ändern. Sie war nie einsam, es war nur ihr Empfinden“, meinte der Mann. Charlott überlegte. Die Frau tat ihr leid. „Warum sind sie zurückgekommen“, fragte Charlott. „Weil ich diese Einsamkeit hier in der Natur brauche, um mich wohl zu fühlen. Du offensichtlich auch“, meinte der Mann. Charlott zuckte die Schultern. „Nein. Ich bin hier, damit sich meine Eltern endlich sorgen und nicht immer meinen großen Bruder bevorzugen“, sagte Charlott nachdenklich. Ihr fielen viele Situationen ein, in denen sich ihr Bruder beschwerte, dass Charlott bevorzugt wurde, weil sie das Nesthäkchen war. „Aber vielleicht ist es nur mein Empfinden“, meinte Charlott erleichtert.

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