Der Spötter

Viele Sprichwörter leiten sich von Bibelstellen ab. Die Bibel ist ein Handbuch für das Leben, für ein gutes und gelingendes Leben. Ja, dafür muss man etwas tun: Anders sein als der Zeitgeist, der oft zum Gegenteil verleitet und führt. Wer also Antworten auf seine Lebensfragen sucht, wird in der Bibel fündig.

In dieser Kurzgeschichte sind gleich zwei Bibelstellen versteckt. Erkennt ihr welche?

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig. Die Geschichte wurde von mir einfach erfunden. Viel Freude beim Lesen.

Täglich wieder aufzuwachen war irgendwie schön und erleichternd und doch für Dirk eine Qual. Das lag nicht nur an seinen fast 150 Kilos Gewicht, sondern an den Erkrankungen, die er schon vorher hatte und im Laufe der Jahre überhaupt zu diesem Gewicht führte. Übergewicht ist meist multifaktoriell. Das begann mit der genetischen Veranlagung, mit den Hormonstörungen, mit den Schilddrüsenstörungen, es begann mit der rheumatischen Erkrankung in jungen Jahren, die ihn daran hinderten, regelmäßig Sport treiben zu können. Es kam wie so oft im Leben eins zum anderen. Der Spott der Mitschüler, der Frust, die Fressattacken, die Grunderkrankungen und irgendwann war man bei einem Gewicht angekommen, mit dem das Leben schwer wurde und durch den daraus entstehenden Folgeerkrankungen noch schwerer wurde.

Dirk schlug die Augen auf und schloss sie gleich wieder. Es war doch egal, wann er aufstand. Seine Nerven waren noch nie die besten. Zu Hause herrschte meist ein rauer Ton und den Eltern rutschte auch immer wieder die Hand aus. Mit Sorgen brauchte er nicht kommen. Dafür hatten die Eltern kein Verständnis. „Wenn du dich nicht wehrst, hast du selber schuld“, hatte sein Vater oft gebrüllt, wenn Dirk von den Hänseleien erzählt hatte. Das hatte zweierlei zur Folge. Zum einen, dass er in der Schule das Prügeln begann, zum anderen, dass seine Angstzustände zunahmen und er immer nervöser wurde, weil er wusste, es war der falsche Weg und weil er so nicht sein wollte.

Es war schon kurz vor Mittag, als Dirk sich doch einer Katzenwäsche unterzog und dann das Haus verließ. Auch wenn er am liebsten gar nichts mehr gegessen hätte, so brauchte er doch Nahrung und wenn er ehrlich zu sich selbst war, auch ein bisschen Abwechslung, ein bisschen soziale Kontakte.

Langsam, denn schnell konnte er nicht, lief Dirk die Straße entlang zum Einkaufzentrum.

„Ach, hallo! Auch wieder hier. Ja, man braucht jeden Tag ein bisschen“, sagte Dirk, die Hand zum Gruß hebend, als er keuchend dort ankam und eine junge Frau aus der Nachbarschaft traf.

Sie hob kurz den Kopf, packte den Arm ihres kleinen Sohnes und zog das Kind weiter als wäre Dirk ein Aussätziger.

„Lasst die Tür auf, schaltet die Automatik ab“, befahl ein Mitarbeiter, der das dann gleich selbst erledigte. Dirk hob auch ihm die Hand zum Gruße und erhielt ein Nicken zurück. Dirk wusste selbst, dass alle Leute mit ihm nichts zu tun haben wollten. Sie sagten er stinke und vor allem sagten sie, er sei faul, weil er keine Arbeit hatte. Das stimmte. Es war nicht in der Lage zu arbeiten, weder körperlich, noch psychisch und einen geeigneten Job für seine Vorerkrankungen und bei seinem Bauchumfang zu finden, das wäre einem Kunststück gleich gekommen. Die Wahrheit aber war: Ihm fehlte selbst für eine einfache Tätigkeit die Intelligenz. Dirk schämte sich oft dafür. Er spürte sehr wohl die spöttischen Blicke, die in seinen Rücken brannten. Er hörte sehr wohl die gehässigen Worte seiner Mitmenschen.

„Dick! Dicki, mein Alter. Dich habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Aber es ist gut, dass wir uns treffen“, rief Ernst schon von weitem.

Dirk lachte, tat als würde es ihn nicht stören, dass ihn niemand bei seinem Namen nannte, sondern mit dem Spitznamen an seinem Namen angelehnt nur auf sein Gewicht angespielt wurde. Dirk wusste auch, dass er nur dann freudig begrüßt wurde, wenn es irgendwo etwas zum Aufräumen gab. Wenn er privater Müllmann sein sollte. Aber er half, um endlich akzeptiert zu werden und dass sich mit ihm unterhalten wurde wie mit jedem anderen Menschen auch. Doch das passierte nur in seinen Träumen. Er wusste, dass er sich mit dieser Hoffnung selbst belog.

Dirk ging gerne ins Einkaufszentrum. Hier waren viele kleine Läden in einer großen Halle untergebracht. Es gab eine Rolltreppe und Bänke zum Ausruhen und obwohl es viele Läden waren, kannte jeder jeden. Es war familiär, was Dirk am meisten liebte. Nur war das für ihn ebenso wenig Familie wie seine eigene. Er wollte den Kontakt nicht mehr.

Auch wenn er keine Kalorie zu sich nehmen sollte, so wollte sich Dirk heute doch ein Stück Donauwelle kaufen, als Geschenk an sich zu seinem Geburtstag. Niemand gratulierte ihm. Niemand wusste, dass er Geburtstag hatte. Er war nie danach gefragt worden.

Auf dem Weg zur Bäckerei musste er an dem anderen kleinen Geschäft vorbei. Das Geschäft war auf allerlei Trempel und Trödel ausgelegt und auf Nichts spezialisiert. Der Eigentümer war an der Tür, hängte ein neues Plakat auf. In Gedanken nannte Dirk den Geschäftsmann den „Spötter“, weil er über jeden Menschen, ob Kunde oder nicht, redete.

„Na Dicki, auch wieder unterwegs“, sagte der Ladeninhaber. „Ja, irgendwas fehlt immer. Ich kaufe mir heute etwas in der Bäckerei. Heute ist mein Geburtstag“, sagte Dirk und ärgerte sich, von seinem Geburtstag geredet zu haben.

Der Ladeninhaber nickte. Er war schon beiseitegetreten, um Dicki in den Laden zu lassen. Doch Dirk lief weiter.

„Das habe ich mir gedacht, du hast dich heute so chic gemacht“, sagte der Ladeninhaber spöttisch. Er verzog die Mundwinkel nach unten. Den möchte ich auch nicht waschen müssen oder bei ihm putzen müssen, dachte der Mann.

„Solltest du mit deiner Diabetes nicht aufpassen?“, fragte der Ladeninhaber. Er wollte mitfühlend wirken, doch sein Blick verriet ihn.

Dirk zuckte mit den Schultern.

„Naja, du musst das Gewicht tragen“, sagte der Ladenchef und ging wieder in sein Geschäft. Die Tür stand offen und Dirk hörte wieder jedes Wort.

„Von wegen er kann nicht arbeiten. Einkaufen kann er auch. Er ist nur zu faul und zu fett und denkt überhaupt nicht dran, etwas anders zu machen. Warum auch? Wir zahlen doch viel Geld, um alle Faulen durchzufüttern“, schimpfte der Ladeninhaber. Eine Frau verließ das Geschäft, schwer bepackt.

„Die verdient ihr Geld auch im Schlaf oder bekommt sie auch Unterstützung. Sie ist doch öfter zu Hause als in der Arbeit. Ich weiß überhaupt nicht, was sie eigentlich tut“, sagte der Ladenchef zu einer anderen Kundin. „Unser Idiot ist auch wieder unterwegs“, sagte ein Mitarbeiter des Trödelladens und deutete mit dem Kopf in die Richtung, aus der ein ältere Mann kam, der angeblich Lehrer war, vor seinem Ruhestand.

„Solche Besserwisser kann ich erst leiden“, meinte der Mitarbeiter. „Solche Leute haben vom Leben keine Ahnung. Geld ohne Ende, ohne wirklich arbeiten zu müssen“, schimpfte er weiter.

„Guten Tag, Herr Studienrat. Gerade haben wir von Ihnen gerdet. Sie sind ja nun im Ruhestand. Das dürfte Ihnen nicht schwer gefallen sein, Sie hatten ja ohnehin mehr Freizeit als Arbeit“, sagte der Ladeninhaber. Der Studienrat schüttelte lachend den Kopf und lief weiter.

So ging das Tag für Tag, wusste Dirk. Weinen konnte er schon lange nicht mehr. Er hatte sich inzwischen seine Donauwelle gekauft, setzte sich auf eine Bank, weit weg von anderen Menschen, damit er niemanden wegen seines „Gestanks“ belästigte und biss von dem Kuchenstück.

Oft kaufte er beim Spötter nicht ein. Sein Geld reichte nicht für Trödel und unnützen Tand. Er musste jeden Cent zwei Mal umdrehen, da blieb sicher nichts übrig. Wozu dort einkaufen? Nicht einmal gratulieren wollte er ihm, dachte Dirk.

Er schlürfte weiter den Flur der Einkaufshalle entlang, immer wieder nach bekannten Gesichtern Ausschau haltend. Doch er erkannte sehr wohl, dass alle, die ihn erkannt hatten, den Kopf in eine andere Richtung drehten, so dass es den Anschein hatte, ihn nicht bemerkt zu haben.

Auf einmal war es vor der Tür des Trödelladens laut geworden. Der Ladeninhaber hatte wohl einen Dieb erwischt und drohte mit der Polizei, überlegte Dirk.

Stehlen darf man nicht, sagte er sich selbst. Neugierig beobachtete er weiter,  was sich an der Tür des Spötters tat.

Eine junge Frau zwängte sich zwischen dem Spötter und dem jungen Mann durch.

Das war Jane, erkannte Dirk, der ihr eigentlich zuwinken wollte, den Impuls aber rechtzeitig unterdrückte. Sonst würde er wieder mit Häme überschüttet werden.

„Dicki du Tarzan?“ hatte der Spötter einmal gesagt, als er sich mit der jungen Frau unterhalten hatte. Sie war freundlich zu ihm, hatte ihm immer nett geantwortet, wenn er einen belanglosen Satz als Höflichkeit sagte.

Jetzt trat der junge Mann dem Spötter gegen das Bein. Die Angestellten kamen aufgeregt zur Tür. Eine von ihnen hatte das Handy am Ohr und rief die Polizei wegen Körperverletzung.

Jane setzte sich zu Dirk auf die Bank.

„Alles Gute zum Geburtstag“, sagte sie und reichte ihm eine kleine Kerze und einen Schokoriegel.

Dirk strahlte über das ganze Gesicht.

„Woher weißt du das?“

Jane zeigte mit dem Kopf zum Spötter.

„Hat er sich wieder lustig über mich gemacht?“, fragte Dirk.

„Du kennst ihn doch“, antwortete Jane.

„Er ist ein böser Mensch. Es wird Zeit, dass er alles zurückbekommt, was er anderen antut“, sagte Dirk.

Jane verzog den Mund. „Man soll anderen Menschen nichts Böses wünschen.“

„Er ist zu anderen sogar böse“, antwortete Dirk.

„Das heißt nicht, es ihm gleich zu tun. Keiner von uns weiß, warum einer so handelt wie er es eben tut.“

„Ach ja, du hast für jeden Menschen eine Entschuldigung“, sagte Dirk.

„ Also gut. Warum macht der Spötter das?“ Die Frage stellte sich Dirk eher selbst.

„Weil er unzufrieden mit sich und seinem Leben ist? Weil er neidisch ist, dass er es nicht zu mehr gebracht hat? Weil es viele Gründe gibt. Vielleicht hat er das Verhalten gelernt?“

Dirk überlegte, schüttelte dann den Kopf.

„Es gibt ein Sprichwort, das lautet: Man macht sich nicht dadurch besser, dass man andere schlecht macht. Wenn man andere schlecht macht, dann nur, um sich selbst besser zu machen“, erklärte Jane.

„Du würdest nie schlecht über andere reden. Du bist ein guter Mensch“, sagte Dirk und kramte in seiner Hosentasche. Ein kleines Herz aus Holz kam zum Vorschein.

„Das habe ich geschnitzt. Ich möchte es dir schenken. Als Danke für dein Geschenk. Du bist die erste und einzige, die mir je gratuliert hat“, sagte Dirk.

„Du hast mich auch nie Dick oder Dicki genannt“, fügte er weiter an.

Jane nahm das Herz, drehte es in ihrer Hand, um es von allen Seiten begutachten zu können.
„Du kannst gut schnitzen. Es sieht toll aus, ehrlich“, sagte Jane.

Dirk lächelte etwas verschmitzt und war peinlich berührt. Lob oder dass er anderen eine Freude bereiten konnte, das kannte er nicht.

„Wenn du genug Holz hast, solltest du weiterschnitzen. Du könntest das am Weihnachtsmarkt verkaufen und dir sogar ein paar Euro damit verdienen. Du kannst das wirklich gut“, lobte Jane.

„Zweifel nicht immer an dir. Auch du hast ein Talent erhalten. Setze es ein, setze es um. Respektiere dich selbst viel mehr.“

Vor lauter Freude hatte Dirk die Ankunft der Polizei verpasst. Ein Beamter hielt den jungen Mann an den Armen fest. Fehlte nur noch, dass sie Handschellen anlegten.

„Warte, ich komme gleich wieder“, sagte Jane, sprang auf und lief zum Spötter.

Sie würde ihm helfen, war sich Dirk sicher und wohl der Spötter auch, da er Jane gleich freudig begrüßte, obwohl sie keine fünf Minuten vorher bei ihm im Geschäft war.

„Der Mann hat niemanden schlecht geredet und somit niemanden daran gehindert, in dem Trödelladen einzukaufen. Er hat nichts gestohlen und nicht betrogen. Das hat sich der Ladeninhaber selbst zuzuschreiben“, sagte Jane zu den Polizeibeamten.

„Das kann ich per Eid bezeugen und das war auch nicht das erste Mal passiert“, sagte Jane.

Dirk hörte das. Auch er war schon einige Male übel nachgeredet und somit betrogen worden. Dirks Dummheit war ja bekannt.

Zu Hause, als er genug Zeit und Ruhe hatte, um das Wechselgeld zu zählen, zeigte sich öfter, dass falsch herausgegeben wurde. Oder zu viel berechnet wurde. Doch Dirk wusste, dass er sich nicht würde wehren können. Er würde nur Spott ernten.

Es bräuchte mehr Leute wie Jane, die halfen und unterstützten und ermutigten, dachte Dirk.

Er sah, dass der Spötter rot wurde und die Polizeibeamten nach einiger Zeit wieder gingen. Die Menschenmenge löste sich dann auch auf, ins Geschäft gingen sie nicht hinein. „Lügner“ rief eine Kunde.

Dirk grinste schadenfroh. Jane zwinkerte ihm zu.

Dank Janes Aufmunterung hatte Dirk tatsächlich zu Hause zu schnitzen begonnen und so viele Holzartikel gefertigt, dass er den Mut fasste, diese am Weihnachtsmarkt zu verkaufen. Von den Einnahmen hatte er sich Holz gekauft und sich zu seinem Geburtstag zum ersten Mal selbst ein schönes Geschenk überreicht.

AUFLÖSUNG:

Ich habe folgende zwei Bibelstellen zugrunde gelegt:

Sprüche 11,12: Wer verächtlich über seinen Mitmenschen herzieht, hat keinen Verstand. Ein vernünftiger Mensch hält seine Zunge im Zaum.

1. Thessalonicher 5:11: „Macht einander Mut und baut euch gegenseitig auf“  

Liebe Grüße

Frankengedanken

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