Die charismatische Kollegin

Der Empfang hatte die Büros schon gewarnt. „Chef schlecht drauf“ lautete die Kurzmitteilung. Ricardo sortierte gerade Akten ein und hatte die Nachricht aus dem Augenwinkel heraus gerade gelesen, da riss Gernot Gottfried bereits die Tür auf. Er war multitaskfähig, konnte finster blicken und zugleich brüllen.

„Warum ist die Akte Maurer gegen Maurer noch nicht auf meinem Tisch?“ Auf Ricardo hatte er es ohnehin abgesehen.

Der junge Mann, zwei Akten noch in der Hand, drehte sich zu seinem Chef und wollte gerade erklären, doch jedes Wort blieb Ricardo in der Kehle stecken.

„Sie haben wohl nichts zu tun? Auf die Idee, sich Neues anzueignen, sind Sie offenbar immer noch nicht gekommen. Frau Helm ertrinkt in Arbeit und Sie machen sich hier einen Lenz. Auch wenn es nicht Ihr grundsätzliches Aufgabengebiet ist, so könnten Sie Frau Helm doch ein paar Akten abnehmen.“

Anwalt Gottfried tobte vor Wut und brauchte deshalb wieder einen Sündenbock, einen Fußabstreifer. Jemanden, den er fertig machen konnte, damit seine Laune wieder stieg.
„Ich habe die Akten einsortiert. Damit alles gleich nach Bearbeitung an Ort und Stelle ist, wie Sie es angeordnet hatten“, stammelte Ricardo. Diese Selbstverteidigung war ein Reflex. Ricardo konnte das nicht verhindern, obwohl er wusste, dass es Gernot Gottfried noch mehr zur Weißglut brachte.

„Ich möchte Sie nach dem Termin von Frau Maurer in meinem Büro sprechen. Die noch nicht rechtzeitig fertiggestellte Akte kostet uns viel Geld. Und unseren Ruf, die besten Anwälte in Stadt und Land zu sein. Im gesamten Bezirk. Ich werde künftig solche finanziellen Einbußen anteilsmäßig von den Gehältern abziehen und mir braucht niemand mehr mit einer Gehaltserhöhung oder ähnlichem reden. Es gibt nichts. Ich bin nicht die Wohlfahrt und leiste für jeden einzelnen hier ohnehin mehr als ich müsste.“ Gernot Gottfried drohte und stellte Ricardo bloß. Jeden Fehler zählte er auf und auch die eine oder andere Situation, die Ricardo bis heute noch peinlich ist. Gernot Gottfried war ein Mensch, der andere drücken musste und brechen wollte. Nur bei Ricardo war das bisher nicht gelungen. Er war ein zäher junger Mann, der sich äußerlich nicht anmerken ließ, wie sehr ihn Gottfrieds Worte und Beleidigungen verletzten. Innerlich tat es weh. Noch bevor Ricardo weitere Entschuldigungen und Erklärungen aussprechen konnte, stellte sich Agnes Helm vor ihren Chef, hielt die Akte Maurer hoch und lächelte ihr freundliches, ungezwungenes Lächeln, mit dem sie bisher jeden Sturm zur Einhalt brachte.

„Ricardo hat diese Akte nicht bearbeitet. Ich weiß, wer das war und wir werden das wieder in Ordnung bringen. Ricardo ist mir von jeher eine große Hilfe und er macht immer mehr, als er eigentlich müsste. Deshalb betrachte ich es auch nicht als Einmischung, sondern als meine kollegiale Pflicht, das Bild, das Sie von ihm haben, gerade zu rücken“, sagte Agnes und wedelte mit der gesuchten Akte.

Augenblicklich beruhigte sich Gottfried, lächelte seine Sekretärin an und nickte drei Mal.
„Es ist löblich, wie sehr Sie sich für ihre Mitmenschen einsetzen, Frau Helm“, sagte Gottfried mit schmeichelnder Stimme und dann an Ricardo gewandt: „Danken Sie Ihrer Ausbilderin, dass Sie keine unbezahlten Überstunden machen müssen.“

Zufrieden ging Gernot Gottfried wieder aus dem Zimmer, während Ricardo wie ein Fragezeichen im Raum stehen blieb. Warum Überstunden? Er hatte nichts verbockt. Er hatte weder die Akte, noch diesen Fall bearbeitet, noch war er untätig gewesen…
„Lass dir nicht so viel gefallen. Hunde die bellen, beißen nicht. Kaum kommt Gottfried, bist du einen halben Meter kleiner. Werde schlagfertiger“, ermutigte Agnes Helm den jungen Mann. Sie holte eine Tasse Kaffee und öffnete die teure Pralinenschachtel, die sie von zu Hause mitgebracht hatte.

Agnes war genau der Typ Mensch, dem die Erfolgsgeschichte buchstäblich ins Gesicht geschrieben stand. Die Frau hatte Ausstrahlung, Charisma. Sie war attraktiv, schlagfertig und konnte jeden begeistern. Vor allem stand sie jedem Schwächeren bei. Sie setzte sich für die unterdrückten Menschen ein, war den Randgruppen ein Sprachrohr. Das konnte Ricardo schon oft beobachten.

Egal, ob es ein älterer Kollege oder eine jüngere Kollegin war. Wurden sie von Gernot Gottfried in die Mangel genommen, meist grundlos, war Agnes Helm da und setzte sich für die unterdrückten Kollegen ein. Wurde eine Kollegin oder ein Kollege von anderen Kollegen gemobbt, war Agnes Helm da, um zu verteidigen. Sie hatte für jeden ein aufmunterndes Wort, hatte für jeden ein Trostpflaster parat. Als Agnes Helm bemerkte, dass die junge Karina wegen ihrer billigen Klamotten und des Modeschmucks gemobbt wurde, hielt Agnes Helm am anderen Tag am Schreibtisch der Kollegin und fragte, ob sie Verwendung für einen Armreif und Ohrringe hatte. Diese hatte sie von ihrem Ex und wollte den echten Schmuck deshalb nicht mehr tragen. Sie bereitete Freude, gab Almosen und der Empfänger hatte obendrein noch das Gefühl, dem Geber einen Gefallen getan zu haben.
Als einem Kollegen schon mehrfach schwere Fehler passiert waren und der Chef ihm kündigte, war es Agnes Helm, die sich zunächst bei Gottfried für den Kollegen einsetze und als sich das als erfolglos erwiesen hatte, gab sie dem Kollegen eine Firmenadresse, bei der er sich bewerben sollte, mit schönen Grüßen von ihr.

Es gab nicht viele Kolleginnen wie Agnes Helm, war sich Ricardo sicher und erzählte jedes Mal ganz begeistert seiner Freundin Sana davon. Doch sie war alles andere als begeistert.
„Sie spielt sich doch nur in den Vordergrund. Sie ist nicht echt. Ihr Verhalten ist nur Show. Wenn es sie wirklich etwas kosten würde, würde sie das nicht tun. Wer weiß, was ihre wirklichen Beweggründe sind. Vielleicht verheimlicht sie etwas.“
Solche und ähnliche Antworten bekam Ricardo dann von Sana zu hören. Er vermutete Eifersucht hinter Sanas Verhalten, weshalb er aufhörte, so begeistert von Agnes Helm zu berichten. Aber auch, weil Sanas Zweifel in ihm Zweifel gesät hatten.
Er hatte die Akte Maurer nicht bearbeitet, hatte die Akte noch nicht mal gesehen und trotzdem hatte Agnes Helm die Akte in der Hand, mit dem Hinweis, sie wisse, wer die Akte bearbeitet und nicht zurück gebracht hatte. Hätte Sana nicht so viele Ungereimtheiten in Ricardos Schwärmereien über Agnes Helms Verhalten gefunden, würde er weiterhin jedes Wort glauben.
Still arbeitete er weiter. Jedenfalls versuchte er das, doch immer wieder tauchten nun die Situationen auf, in denen sich Agnes für die anderen Kollegen eingesetzt hatte. Wo war der Haken? Hatte sie sich wirklich für jeden eingesetzt? Es gab keinen Mitarbeiter, der nicht mindestens ein Mal eine Moralpredigt erhielt, obwohl ungerechtfertigter Weise. Als Eileen von Gottfried wie eine Serviette zusammengefaltet wurde, hatte sich Agnes nicht geäußert. Auch nicht bei Henrik und nicht bei Frau Winter.

Was unterschied sie von den anderen Kollegen? Ein Blick auf die Uhr sagte Ricardo, dass es Zeit für die Pause war. Mit Sana wollte er im angrenzenden Park laufen und ein Sandwich essen. Und nach vielen Tagen Pause wieder über die charismatische Kollegin Agnes reden, dem Engel der unterdrückten Mitarbeiter. Ricardo erzählte seiner Freundin alle Situationen, die ihm vorhin im Büro durch den Kopf gingen.
„Jetzt weiß ich es. Sie hilft nur den Kollegen, die ihr gefährlich werden könnte. Die ihre Position haben könnten oder eine ähnliche. Kollegen, die sie eigentlich nicht leiden kann oder konnte“, sagte Sana.
„Dann wäre sie doch nicht freundlich und hilfsbereit“, meinte Ricardo.
„Doch. Gerade dann. Verstehst du nicht? Sie holt sich deren Arbeit, deren Akten und macht absichtlich Fehler. Doch damit der Verdacht nicht auf Helm fällt, setzt sie sich für die Kollegen ein. So ist jeder voll des Lobes für Helm, der Chef sowieso und sie kann ungehindert weiter ihr Unwesen treiben, bis die Konkurrenz versetzt oder gekündigt wird“, erklärte Sana.
Das leuchtet Ricardo ein. Er schluckte.
„Dann bin ich wohl auch eine Konkurrenz und wer weiß, was sie hinter der geschlossenen Tür des Chefbüros schon über mich erzählt hat. Aber es ergibt Sinn, denn die Akte Maurer hatte Helm in der Hand und sie hat mit dem Fall wirklich nichts zu tun. Allerdings deutete sie an zu wissen, wer die Akte falsch bearbeitet hat“, fuhr Ricardo fort.
„Sie selbst war es. Womöglich hat Gottfried die Helm beauftragt, dir die Akte zu geben. Und dann ihr vernichtendes Werk begonnen.“
„Niemand kann ihr das beweisen und niemand wird uns glauben. Sie gilt als fleißig, ist als freundlich und hilfsbereit bekannt und der Chef hat einen Narren an ihre gefressen“, sagte Ricardo. Er würde sich etwas einfallen lassen. Er würde Agnes nicht mehr auf den Leim gehen und er würde sich von ihr auch nicht seine berufliche Karriere zerstören lassen.

Als Ricardo nach der Pause wieder das Büro betrat, sah er Agenes gerade noch von seinem Schreibtisch weggehen.
„Deine Grünpflanze hat nach Wasser gerufen“, sagte Agnes gutgelaunt.
„Du bist ein Engel. Es wäre schon die dritte Pflanze, die mir meine Freundin geschenkt hat und die eingegangen wäre“, antwortete Ricardo, setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl und ging seine noch zu bearbeitenden Akten durch. Sofort fiel ihm auf, dass eine wichtige Akte fehlte. Die brauchte Gottfried dringend für den morgigen Gerichtstermin. Wo hatte Agnes die Akte versteckt?
Ricardo stand auf, nahm seine Pflanze und stellte sie auf Agnes Schreibtisch.
„Das ist eine besondere Glückspflanze. Die überlasse ich nun dir. Ich habe genug Glück gehabt, denn so wie es aussieht, bekomme ich die Stelle. Ich habe mich bei einer anderen Kanzlei beworben, aber sag Gottfried bitte nichts davon. Und nein: Fragen ist zwecklos. Ich werde dir nicht verraten, welche Kanzlei, solange nicht alles in trockenen Tüchern ist“, sagte Ricardo.
Als er sich nach der Kaffeepause wieder an seinen Schreibtisch setzte, war seine Akte wieder da. Ganz unten im Stapel. Durch die Blume hatte er signalisiert, keine Konkurrenz mehr zu sein. Es schien zu funktionieren. So glänzend charismatische Menschen auf den ersten Blick auch wirken, schon der Volksmund warnt vor Menschen, die anderen Honig um den Mund schmieren. Sie wollen nur ihren eignen Vorteil. „Ja, Agnes. Auch ich kann dir viele Bären aufbinden“, dachte Ricardo und konnte in Ruhe arbeiten. Akten fehlten keine mehr.

Foto und Text Copyright Petra Malbrich / Frankengedanken

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