„Versteckte Hoffnung“

Die schmerzenden Knochen waren das erste, was Annegret nach dem Aufwachen spürte. Sie massierte ihre geschwollenen Finger, wohlwissend, dass es keine Linderung verschaffen würde, während der Regen gegen die Fensterscheibe peitschte. Das Wetter spiegelte ihre Stimmung wider, dachte Annegret und verzog ihren Mund zu einem ironischen Lächeln. Das Pfeifen der Windböen übertönte alles. Selbst ihre unausgesprochenen Gedanken. Dieses Wetterextrem war so sinnlos und wertlos wie sie selbst. Annegret blieb noch eine Weile liegen. Eigentlich wollte sie überhaupt nicht aufstehen. Wozu auch? Es wartete niemand auf sie und es war ihr inzwischen zu beschwerlich, einfach nur zu leben. Jeden Tag aufs Neue aufzustehen, den Alltag verrichten, bis es endlich Abend wurde, um dem Schmerz der Einsamkeit zu entfliehen und den neuen Tag wie den vergangenen zu beginnen. Ja, wenn sie einen angesehenen Beruf hätte, wenn sie Arzt, Polizist oder ein anderer Mensch im öffentlichen Leben wäre, jemand Bedeutungsvolles, dann sähe das Leben anders aus. Dann würden sich die Leute nach ihr erkundigen, würden ihr Grüße schicken, würden anrufen und sie zu sich einladen. Doch wer interessierte sich für eine Rentnerin, die ihr Leben lang nur in anderen Haushalten geputzt hat. Bei den angesehenen und reichen Leuten. Bei den bedeutsamen Leuten, die sich eine Putzfrau leisten konnten. Trotzdem war sie für diese Leute wie Luft. Es war ihr unangenehm, sich bei öffentlichen Veranstaltungen zu zeigen. Alle hätten gleich bemerkt, dass sie nicht besonders gebildet war. Außerdem hatte sie kein Geld, um am öffentlichen Leben teilzunehmen. Selbst ein Konzert in der Kirche kostete Geld. Geld, das sie nicht hatte, um sich in der Kirchenbank zurückzulehnen und den Klängen der Orgel zu lauschen. Es hilft alles nichts, dachte Annegret, die ihre Bettdecke zurück schlug und doch aufstand. Wie jeden Morgen schaute sie aus ihrem Fenster, das hinten hinaus in den Garten ging. Sie liebte diesen Blick auf die angrenzenden Wiesen und Felder. Das war der einzig schöne Moment am frühen Tag. Es sollte ihr letzter Tag sein, beschloss Annegret, als sie vom Bett zum Fenster lief, das gerade von einem Blitz erhellt wurde. Sie würde bei dem Wetter spazieren gehen, beschloss sie. Alleine mitten auf der großen Wiese wäre die Chance hoch, von einem Blitz getroffen zu werden. Dann hätte sie endlich friedliche Ruhe statt erdrückender Einsamkeit und mangelnder Wertschätzung. Ja, dass sie keinem Menschen etwas bedeutete, das verletzte Annegret. Nein, sie hatte nicht selbst Schuld, führte sie ihr stummes Zwiegespräch mit sich fort. Sie hatte gearbeitet, hatte immer gespendet, hatte die Leute gegrüßt und immer ein Lächeln auf den Lippen, für die Kinder eine Süßigkeit parat und ein streunender Hund bekam auch ein kleines Stück Futter bei ihr. Sie war nie verheiratet, weil sie nie Gelegenheit dazu hatte und Kinder hatte sie auch nicht. Annegret beobachtete die enorme Wucht, die der Regen beim Auftreffen auf die Erde hatte, als etwas Schwarzes, das gut hundert Meter weit hinten bei den Apfelbäumen auf und ab hüpfte, das Bild unterbrach. Die ältere Frau ging näher ans Fenster, hielt ihre Hand an die Scheibe, als könnte sie damit den Regenvorhang durchtrennen und sich freie Sicht verschaffen. Annegret wiegte den Kopf hin und her, um das hüpfende schwarze Etwas einordnen zu können. Das ist doch Stella, der Hund der Tochter des Bankdirektors, erkannte Annegret und schaute intensiver zu den Apfelbäumen. „Natürlich ist das Stella. Den Hund muss jemand an den Baum gebunden haben“, murmelte Annegret vor sich hin, öffnete den Kleiderschrank und zog sich an. Das arme Kerlchen. Was musste der Kleine für Ängste ausstehen, bei dem Gewitter draußen festgebunden zu sein. Annegret war bereits an der Garderobe angelangt, zog ihre Regenjacke und Gummistiefel an, nahm einen Schirm in die Hand und lief aus dem Garten, die weite Wiese zu den Apfelbäumen entlang. Als sie nur noch wenige Meter entfernt war, sah sie, dass auch Elena, die Tochter des Bankdirektors bei dem Unwetter da draußen war. Sie saß mit hängendem Kopf auf der Holzbank neben dem kleinen Holzhäuschen, in dem der Bauer seine Äpfel lagerte. Ob Elenas nasses Gesicht vom Regen oder von den Tränen kam, konnte Annegret nicht erkennen. Aber sie konnte den Grund für ihr Verhalten erahnen, schließlich hatte sie sich auch um den Haushalt des Bankdirektors gekümmert. Wahrscheinlich hatten sie wieder viel zu hohe Anforderungen an das Mädchen gestellt. Na denen würde sie etwas erzählen, nahm sich Annegret vor. „Was treibt dich bei dem Unwetter hinaus? Du bist patschnass und wirst dich fürchterlich erkälten“, rief Annegret laut, um gegen das Pfeifen der Windböen anzukommen. „Das ist doch egal“, schrie die Jugendliche zurück. Annegret stapfte durch die nasse Wiese, setzte sich neben Elena auf die Bank und spannte den Regenschirm auf, um das Mädchen vor den Wassermassen zu schützen, obwohl Elene bereits völlig durchnässt war. „Was ist denn los mit dir?“, fragte Annegret. Das Mädchen schnäuzte sich. „Ich will nicht mehr leben. Es ist doch ohnehin jedem egal, was mit mir ist“, schluchzte Elena. „So ein Unsinn. Deine Eltern machen sich bestimmt fürchterliche Sorgen“, antwortete Annegret kopfschüttelnd. „Meine Eltern bemerken überhaupt nicht, ob ich zu Hause bin oder nicht“, entgegnete Elena. „Natürlich fällt es ihnen auf. Wie kannst du sie nur in diesen Schrecken versetzen“, schimpfte Annegret. „Dann wissen sie endlich, dass es mich gegeben hat. Wenn ich nicht mehr da bin, machen sie sich wenigstens Vorwürfe. Dass sie mir besser einmal zugehört hätten, dass sie sich mit mir gefreut hätten, dass sie wissen wollen, was meine Wünsche sind. Aber das alles interessiert sie nicht. Sie haben mich nicht einmal für die Eins in Mathe gelobt. Sie sagen nur, was sie als nächstes von mir erwarten. Immer wieder muss ich etwas tun, muss ich etwas erreichen, muss ich mir irgendjemanden als Vorbild nehmen. Aber ich kann das nicht mehr“, weinte Elena. „Ich ertrage das alles nicht mehr. Das Leben ist so schwer“, sagte Elena. Annegret nickte. „Aber du musst doch nicht alle Erwartungen erfüllen. Du musst nur einen Schritt nach dem anderen gehen. Aufstehen, weiter machen. So gut du kannst. Und doch hast du mir gegenüber einen Vorteil: Es gibt Menschen, die noch Erwartungen an dich haben. Jede Erwartung ist nichts anderes als eine versteckte Hoffnung. Ich bin ganz alleine in meinem Haus. Niemand erwartet etwas von mir“, meinte Annegret. „Ich hatte gehofft, dass Sie kommen“, sagte Elena, wischte sich die Tränen ab und sah verwundert, dass Annegret vor Freude zu weinen begann.

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