
Das Martinshorn klang schon ganz nahe. Hatte ihn die Polizei doch gesehen? Noah lehnte hinter der geschlossenen Tür und atmete heftig. Das konnte nicht sein, sagte er sich immer wieder beruhigend. Er war viel zu schnell gerannt und war nicht auffällig gekleidet. „Ist alles in Ordnung?“, rief seine Mutter aus der Küche. „Ja, klar“, rief Noah zurück. Gleich würde sie kommen und ihm Löcher in den Bauch fragen, warum er dann noch immer an der Türe wartete und ob er in der neuen Stadt schon Freunde gefunden hatte und die ganze Litanei. Er tastete an seine Jackentasche. Das Flakon war noch da. Es war eins von Jean Paul Gaultier, total angesagt. Dabei mochte Noah diese Düfte überhaupt nicht. Er bekam immer Kopfschmerzen davon. Du verträgst diese Dinge nicht und es schadet der Umwelt, sagte seine Mutter und lehnte deshalb immer wieder ab, ihm eines dieser Parfüms zu kaufen. Wenn Noah das seinen Freunden erklärte, lachten sie ihn aus. Er habe nur das Geld nicht dazu, er könne es auch einfach mitgehen lassen, forderten sie ihn dann auf. Als ob er ein Dieb wäre. Der Druck wurde immer größer, denn irgendwann wurde das Mobbing immer schlimmer. „Iiih, du stinkst“, riefen die Jungs, sobald er an ihnen vorbei ging. „Wer sich täglich wäscht, braucht sich nicht mit diesem Zeug einsprühen“, konterte Noah. Das ging im allgemeinen Gelächter unter und selbst die Mädchen zogen mit und foppten ihn. „Ist wirklich alles in Ordnung?“, rief seine Mutter erneut. Noah hörte ihre Schritte und trat von der Tür weg. „Ja, alles okay. Es hatte nur geklungen, als wäre die Polizei in unsere Straße gefahren“, sagte Noah. „Die müssen wir nicht fürchten“, antwortete seine Mutter. Noah schwieg, öffnete die Haustüre nochmal einen Spalt und spitzte hinaus. Er konnte kein Polizeiauto sehen. Leise schloss er die Tür und schlenderte betont laut in sein Zimmer, das gegenüber der Küche lag. Seine Mutter sollte hören, dass er nicht mehr an der Haustür stand. Sonst würde sie doch kommen und ihm sofort anmerken, dass etwas nicht stimmte. In seinem Zimmer holte er den Flakon und zwei Packungen Kaugummi aus der Jackentasche und legte alles auf den Schreibtisch. Warum er das auch noch mitgehen ließ, konnte sich Noah selbst nicht beantworten. Es war der Nervenkitzel, der sich dann einstellte. Es war nicht schwer, einfach etwas mitgehen zu lassen. Man musste nur den richtigen Moment erwischen. Noah setzte sich und beobachtete, wie die Sonnenstrahlen den Flakon heller erscheinen ließen. Die anderen hatten natürlich an der Eingangstür der Drogerie gewartet und ihn beobachtet. Als er vor der Parfümabteilung stand, konnte Noah deren schadenfrohe Miene richtig vor sich sehen. Umso mehr fühlte er sich nun stark und akzeptiert. Nun würden sie ihn endlich in Ruhe lassen, dachte Noah und fühlte sich fast ein wenig heldenhaft dabei. Was er tat, würde nicht jeder tun. Feigheit jedenfalls konnte man ihm nicht nachsagen, dachte Noah. Diese Euphorie hielt nicht lange an. Kaum dass er das Geschäft verlassen hatte, waren die Freunde wieder da. Zunächst klopften sie ihm aufmunternd auf die Schulter. „Das kannst du morgen wiederholen. Ich brauche auch einen neuen Duft“, meinte Julius, der Anführer, der immer so großspurige Reden schwang. „Besorge dir deine Sachen selbst“, meinte Noah, der sich nun akzeptiert fühlte. „Du bestimmst das nicht. Du besorgst das morgen oder wir werden jemanden von deinem Hobby erzählen“, meinte Julius süffisant und zeigte sein Handy. Das Schwein hatte ihn aufgenommen, erkannte Noah schockiert. Er war nun erpressbar, wurde ihm klar und saß noch tiefer im Schlamassel. Wenn sein Vater noch leben würde, wäre alles einfacher. Er hätte eine Lösung für das Problem. Er hätte zugehört. Seine Mutter hörte auch zu, doch sie verstand die Jungen nicht. Ihre Lösungen wären kontraproduktiv. Mit dem Fuß kickte Noah gegen seine Schultasche. Er fühlte sich beobachtet und drehte sich wie ertappt zur Zimmertür um. Die Tür war geschlossen, niemand im Zimmer. Sein Blick fiel auf seinen Teddybären, der seit Jahren im Schlafanzug auf der Kommode saß und jeden Schritt von Noah beobachtete. „Was glotzt du so blöd“, fragte Noah grantig. Dann lachte er. „Wie bescheuert bin ich eigentlich? Sitze hier und rede mit einem Teddybären“, sagte Noah laut. Der Teddy blieb ruhig, schaute noch immer geduldig zu dem Jungen, der ihn vor ein paar Jahren noch im Arm hielt. Noah streckte dem Bären die Zunge heraus. Der Bär bewegte sich nicht. „Du hast es gut. Keine Probleme, keine Freunde, die doch keine sind, keinen Mist gebaut“, erklärte Noah seinem Teddy. Er blieb immer noch still. Noah schaute dem Bären ins Gesicht. So wie damals. Als Noahs Vater starb und er niemanden hatte, dem er erzählen konnte, wie alleingelassen, wie verletzt sich Noah fühlte. Oder noch ein paar Jahre zurück, wenn er nicht schlafen konnte, weil er Angst hatte oder sich unverstanden fühlte und sein Teddy ihn beschützt hatte. Er hatte ungeahnte Fähigkeiten. Nur manchmal musste Noah ihn beschützen. Und wenn das alles nicht half, kam sein Vater und ließ den Bären lebendig werden, wenn er ihm seine Stimme verlieh. Noah konnte sich nun sogar an die Stimme seines Vaters erinnern. „Du musst nicht unbedingt Freundschaften schließen. Es ergibt sich von selbst“, sagte sein Vater, als sie schon einmal umgezogen waren und sich Noah alleine und ausgeschlossen fühlte. Nur sein Teddy war immer da. Noah stand auf, nahm den Bären in die Hand und begutachtete ihn ganz genau. Ja, er hatte sogar noch die außergewöhnlichen Fähigkeiten, meinte Noah, lachte erleichtert und setzte den Teddy auf den Schreibtisch. „Danke für deinen Rat, Kumpel“, sagte Noah laut und packte den Flakon und die Kaugummis wieder in die Jackentasche. Er hörte die Schritte seiner Mutter, die sogleich ihren Kopf ins Zimmer steckte. „Mit wem unterhältst du dich“, fragte sie. „Mit einem Freund. Aber er ist jünger als ich“, sagte Noah grinsend. „Das macht doch nichts und es freut mich“, meinte seine Mutter. Noah stand auf, schaute aus dem Zimmer. Die Polizei stand am Straßenrand. Die Beamten waren wohl wieder zu einem häuslichen Streit gerufen worden. „Ich muss nochmal kurz weg. Bin in fünf Minuten wieder da“, sagte Noah und verließ das Haus. Die Polizeibeamten wollten gerade wieder ins Auto steigen, als Noah zu ihnen ging, sein Diebesgut aus der Tasche zog und den Beamten die Geschichte erklärte. Er fuhr mit ihnen in die Drogerie und erklärte alles. Auf eine Anzeige wurde verzichtet. Noah war erleichtert. Niemand konnte ihn nun mehr erpressen. Auf solche Freunde konnte er verzichten. Es würden sich andere finden, dachte Noah und schlenderte gut gelaunt nach Hause. Er konnte warten. Wenn es sein musste, so lange wie sein Teddy.
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