
Jetzt haben die Kinder beim Herumlaufen um das Grab schon wieder das Blumengesteck verrutscht, stellte Bruno fest. Er warf den Kindern, die vor dem Nachbarsgrab standen, einen rügenden Blick zu. Dass die Familie ihren Kindern nicht sagen konnten, hier am Friedhof habe man sich still zu verhalten. Wobei – still waren sie ja, sie liefen nur immer wieder um das Grab herum. Das nervte gewaltig. Schließlich war Allerheiligen, Friedhofsgang. Die Friedhofbesucher warteten nur, dass der Gottesdienst zu Ende war und die Gräber gesegnet wurden. Der Junge, der bestimmt schon in die erste Klasse ging, lief schon wieder zum Grabstein. Konnte er nicht einfach still stehen bleiben? So etwas hätten sich seine Kinder nicht erlauben dürfen, dachte Bruno, noch immer mit einer grantigen Stirnfalte die Kinder am Nachbargrab beobachtend. Aber von denen war nichts anderes zu erwarten, legte er nach. Führten sich immer so übertrieben auf. Statt sich einfach mit einem Lachen zu freuen, wurde übertrieben betont gejauchzt. Fast wie in den amerikanischen Filmen. Von dort werden sie sich diese Unart abgeschaut haben, dachte Bruno. Überhaupt, was musste da die ganze Verwandtschaft am Grab antanzen? Reichte es nicht, wenn Tochter und Sohn gekommen wären? Am Friedhof war ohnehin alles sehr beengt. Nein, diese Familie musste natürlich zu zehnt erscheinen. Die sind natürlich christlicher als andere. Fast schon heilig, keifte Bruno in Gedanken und schüttelte demonstrativ abwertend den Kopf. Es schien Wirkung zu zeigen. Die Mutter hielt ihren Sprössling zurück, als er wieder ums Grab laufen wollte. Schon vier Mal hatte Bruno das Grabgesteck wieder ordentlich auf seinen Platz gestellt. Seine Gerda würde sich freuen, wenn sie sähe, wie ordentlich er ihr Grab hielt. Bruno schaute wieder zum Nachbarsgrab. War der eine Herr nicht ein Verwandter aus Berlin? Oder Hamburg? Wo Hans herkam? Ja, Hans hatte schon immer jedes Fest wie eine Hochzeit gefeiert. Er war ein geselliger Mensch. Und wie es dann immer aussah im Garten, wenn die vielen Kinder ihre Spielsachen einfach liegen ließen. „Aufräumen können wir später. Das tut dir keener“, sagte Hans dann zu den Leuten, die am Grundstück vorbei gingen. „Komm rein, iss etwas mit uns“, lud er stattdessen Bekannte ein. Doch Bruno lehnte stets ab. Das war ihm zu laut. An Allerheiligen so viele Leute am Grab. Feierten die Amerikaner nicht ihr Thanksgiving um die Zeit von Allerheiligen und Totensonntag herum? Ja, sie hatten schon amerikanische Verhältnisse, dachte Bruno erneut. Das hätte es bei ihm nicht gegeben. Da konnten seine Kinder noch so schielen und meckern, dass bei ihnen zu Hause immer alles so ernst war. Das Leben ist nun mal ernst, sagte Bruno dann. Punkt. Da gab es keine Diskussion. „Lass doch mal Fünfe gerade sein“, sagte Gerda dann. Doch nichts. Man kann nicht allen Launen nachgeben, antwortete Bruno daraufhin. Nun lag sie hier. Alleine in dem tiefen dunklem Grab. Ihre Kinder waren nicht gekommen. Allerheiligen? Wir denken auch ohne auf dem Friedhof zu stehen, an unsere Mutter, würde Janosch sagen. Nun füllte sich das Grab von Erika, schräg gegenüber von Gerda, wie Bruno erkannte. Zu dritt waren sie gekommen, um am Grab ihrer Mutter zu beten. Dazwischen unterhielten sich die Kinder flüsternd miteinander. Sie sollen doch nicht so tun, als ob sie sich plötzlich verstehen würden. Schon immer haben sie wegen jeder Kleinigkeit gestritten. „Die bringen ihre Mutter bald ins Grab“, meinte Gerda immer bedauernd, wenn sie das mitbekam. Das hatten sie wohl geschafft, dachte Bruno. Fast jedes Wochenende waren sie gekommen, um ihre alte alleinstehende Mutter zu besuchen. So scheinheilig waren die Kinder, dachte Bruno. Als ob sie so sehr zu ihrer Mutter halten würden. Sie glaubte auch, etwas Besonderes zu sein, weil sie nie geheiratet hatte. Eine Art Vorreiter, würde man heute sagen und stolz darauf sein. Bruno schüttelte den Kopf. Das hätte es bei ihnen nicht gegeben. Als sein Sohn Tobias erklärte Papa zu werden, bestand Bruno darauf, dass das Kind ehelich auf die Welt kam. Auf den Schein legen wir keinen Wert, meinte Tobias. Sie würden auch ohne Urkunde zusammengehören. Das solle er bitte akzeptieren. Vor die Wahl hatte er seinen Sohn gestellt. Entweder Heirat oder sie sollten von ihm Abstand halten. Eine solche Unordnung würden sie nicht dulden. Wo sollte das hinführen? Tobias hatte sich für die wilde Ehe entschieden und gemeint, dass ihn das Verhalten der Eltern verletze. Er würde sich freuen, wenn er von ihnen wieder hören würde, dass sie willkommen sind. Auch ohne Trauschein. Bruno schwankte, blieb jedoch hart. „Die Kinder, auch wenn sie erwachsen sind, brauchen Konsequenzen, das gibt Halt“, erklärte Bruno immer und seine Gerda würde ihn wieder bitten, Fünfe gerade sein zu lassen. Gerda, seine Herzensseele, wollte nie Streit und Unfrieden, dachte Bruno. Zum Glück blieb er konsequent. Trotzdem hatten Erika und ihre Kinder immer viel gelacht und zusammengehalten, fiel Bruno ein. Naja, was blieb der armen Frau übrig. Sie hatte nur ihre Kinder und was sollten diese von ihr lernen? Dass man Traditionen und Konventionen einfach über den Haufen warf? Natürlich waren sie anders, sie hatten nur sich, dachte Bruno und nickte zufrieden über seine Theorie. Hinter ihm stellte sich nun auch jemand ans Grab, spürte Bruno und drehte sich um. Na das war ja ein Ding. Der alte Grantelhuber Berthold war ans Grab seines Onkels gekommen, ein frisches Blumengesteck in der Hand. Statt es aufs Grab zu legen, hob er es zum Gruß. Wen grüßte er so freundlich? Bruno schaute sich um. Ach, sieh an. Den alten Siegfried hatte er gegrüßt. Die beiden waren sich doch nie grün? Wurden sie im Alter sentimental? „Kinder, könnt ihr mir helfen und die Kerze anzünden und hier ins Gefäß stellen“, fragte der alte Berthold die nervenden Kinder von Brunos Nachbarsgrab. „Dank euch recht schön“, meinte Berthold kurz darauf. Bruno schüttelte erneut den Kopf. Ja, so war er. Immer redete er jemanden an, nur um sich beliebt zu machen, dachte Bruno. Darauf legte er keinen Wert. „Geh, ein nettes Wort würde dir keine Zacke aus der Krone schlagen“, würde seine Gerda dann sagen. Ja, sie hatte für jeden ein gutes Wort. Aber er würde sich nicht verbiegen lassen. Was hatte er mit den Kindern anderer Leute zu schaffen? Noch bevor er das zu Ende gedacht hatte, sah er die beiden Schwestern von der Leni. Leni lebte doch noch. An wessen Grab stellten sie sich? An Theresas Grab. Die waren doch gar nicht verwandt. Die beiden hatten aber immer bei der Theresa vorbei geschaut, erinnerte sich Bruno. Ja, auch Theresa musste sich Lieb-Kind-machen, denn sie hatte niemanden. Wie lange dauerte es noch, bis die Gräber endlich gesegnet würden? An die Verstorbenen gedenken, das hatte Bruno nun lange genug getan, dachte er. So viel Zeit hatte er nicht mehr. Wer wusste schon, wann er gerufen wurde? Er spürte wieder das beklemmende Gefühl im Brustkorb. Das Herz? Er wusste es nicht. Was werden sie über mich denken? Wer würde an meinem Grab stehen, schoss es Bruno durch den Kopf. Entsetzt schaute er auf. Hatte Berthold ihn gemeint? „Nein, nein. Ich gehe dann nicht in die Gastwirtschaft. Keine Zeit. Meine Kinder kommen am Wochenende“, sagte Bruno und ließ einen verdattert schauenden Berthold zurück. „Schön, dass ihr euren Opa noch immer so lieb habt“, sagte er lächelnd zu den Kindern am Nachbargrab. Noch auf dem Weg vom Friedhof zum Auto zog Bruno das Handy aus der Hosentasche und rief seine Kinder an, Allerheiligen mit ihm zu verbringen. Das Gedenken musste man im Leben setzen, wusste Bruno nun.