Die Retterin

Auf den Inhalt des Buches konnte sich Hanna nicht konzentrieren. Ständig schweiften ihre Gedanken ab. „Misch dich nicht immer ein. Du machst alles nur noch schlimmer“, hatte ihre Freundin am Freitag gesagt und Hanna einfach die Tür vor der Nase zugeschlagen.

Hanna erinnerte sich an diese unschöne Szene. Sie war einfach nur noch enttäuscht von den Menschen, die ihr am meisten am Herzen lagen. Allen wollte Hanna helfen. Sie hat sich viel Zeit für ihre Freunde und Familie genommen, hat auch Geld investiert und nun ist sie diejenige, auf der unermüdlich von allen Seiten herumgehackt wurde. Nun war sie der Buhmann. Bei Julia sei die Versetzung gefährdet. Mit dieser Nachricht kam ihre Mutter von der Elternsprechstunde zurück. Hanna war sich sicher, ihre kleine Schwester könne das Klassenziel trotzdem erreichen. Sofort begann Hanna Übungen auszuarbeiten, fertigte Arbeitsblätter an und begann mit ihrer Schwester zu lernen. Doch Julia hatte keine Lust dazu, war Hannas Eindruck. Keine vier Wochen später wurde Hanna geschimpft. Sie solle aufhören, ihre Schwester zu drangsalieren. Wenn sie die Klasse wiederholen muss, sei das nicht so schlimm. Dabei hatte Julia große Fortschritte durch die gemeinsamen Lernstunden erreicht. Hanna starrte in den Gartenteich, während diese Erinnerungen wieder lebendig wurden. Die Reaktion der Eltern konnte sie nicht verstehen.

Dann wurde ihre Mutter krank. Unerklärliche Nervenschmerzen ließen sie fast bewegungsunfähig werden. Als Hanna das erfahren hatte, erkundigte sie sich sofort über verschiedene Heilmöglichkeiten. Wenn die Schulmedizin angeblich machtlos war, hieß das noch lange nicht den Zustand als gegeben hinzunehmen. Vielleicht würde eine alternative Behandlung helfen. Hanna las viele Berichte dazu, kaufte die Pflanzen, Kräuter und was noch alles benötigt wurde, stellte nach den Vorgaben Salben und Tinkturen her. Das schenkte sie ihrer Mutter mit der genauen Anleitung, wie und wann die Mittelchen verwendet werden mussten. Doch statt sich zu freuen, musste Hanna ihre Mutter überreden, Neues auszuprobieren. Als sie es endlich tat, verschlimmerten sich die Beschwerden. Hanna war davon überzeugt, ihre Mutter hatte das entweder nicht probiert oder falsch angewendet, suchte immer wieder anderes und überredete sie erneut, es mit diesen Mitteln zu probieren. Irgendwann wurde sie von ihrer Mutter angebrüllt. Hanna solle sie mit dem ganzen Quatsch verschonen. Sie wisse schon, was gut für sie sei und Hanna solle sich um ihre Angelegenheiten kümmern. Doch als eine Freundin ihrer Mutter von einem Wundermittelchen berichtete, probierte sie das sofort aus. Das enttäuschte Hanna mehr als die verletzenden Worte.

Oft hatte sie mit ihrer Freundin Diana darüber geredet. Diana erging es ähnlich und schon deshalb war Hanna verletzt, als nun auch Diana ihr diese bösen Worte an den Kopf schleuderte. Es war doch Diana, die sich bei jedem Treffen darüber ausließ, wie sehr sie unter der elterlichen Diktatur leide und dass es ihr schwer falle, sich einmal durchzusetzen. Es waren harmlose Situationen, fand Hanna. Trotzdem konnte Diana ihre Meinung nicht durchsetzen. Wenn sie beispielsweise lieber den gestreiften Pulli gekauft hätte, statt das moderne Teil, das Dianas Mutter so gut gefiel. Oder dass Hanna lieber Klavierspielen gelernt hätte, anstatt Tanzunterricht zu nehmen. Diana hätte lieber längere Haare gehabt, doch ihre Mutter fand den Kurzhaarschnitt viel praktischer und eleganter. Bei jedem Treffen erzählte Diana neue Situationen, in denen sie machtlos gegen die Vorstellungen der Mutter war. „Natürlich habe ich ihr Ratschläge erteilt“, murmelte Hanna laut vor sich, während sie weiter in den Gartenteich starrte.

Das hätte jeder andere auch getan, verteidigte sich Hanna. Aber ist das ein Einmischen? Das ist ein Gespräch, verteidigte sich Hanna erneut vor sich selbst. „Nur weil man dir etwas erzählt, heißt das noch lange nicht, dass du dich einmischen sollst“, schrie Diana damals aufgebracht, schlug die Tür zu und ließ Hanna im Regen stehen.

Die Sonne hatte in den vergangenen Tagen gut zehn Zentimeter des Wassers im Gartenteich verdunsten lassen. Der schwarze Kunststoff des künstlichen Teichs war sichtbar. Ein kleiner Käfer krabbelte dort entlang und mühte sich sichtbar ab, an dem kleinen feuchten Kunststoff nicht auszurutschen und in den Teich zu fallen. Besorgt beobachtete Hanna seine Anstrengungen eine Weile und entschied, den kleinen Käfer zu retten und versuchte ihn auf ein Blatt zu schieben. Der Käfer, der völlig unvorbereitet den sicheren Halt verlor, begann mit seinen Beinchen zu rudern, rutschte vom Blatt und fiel ins Wasser. „Du glaubst wohl, du kannst die ganze Welt retten. Ich habe dich nicht darum gebeten, gerettet zu werden. Du machst alles nur noch schlimmer“, hörte Hanna ihre Freundin in Gedanken schimpfen, während sie den Käfer suchte, der in den Tiefen des Teichs verschwunden war.

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