Wer erntet noch?

„Unserer Listen mit Bitten und Wünschen ist meist länger als unsere Liste des Dankes. Erntedank lädt uns ein, das zu ändern.“ Das lernte auch Lea, die trotzige Protagonistin in dieser Kurzgeschichte zum Erntedank.

Es war nicht unbedingt die Kirche, mit der Lea auf Kriegsfuß stand. Sie hatte nur keine Lust, in die Kirche zu gehen. Viel angenehmer war es, diesen regnerischen Morgen im Bett zu verbringen und ihren Roman weiterzulesen. Aber ihr kleiner Bruder Moritz hatte einen Auftritt, denn die Kindergartenkinder spielten den „Kartoffelkönig“ zum Erntedankfest. Deshalb saß auch Lea schlecht gelaunt in der Kirchenbank und starrte auf die vielen Gabenkörbchen, die vor dem Altar aufgestellt worden waren.

Moritz war aufgeregt, als er sein Körbchen am Abend gefüllt hatte. Eine Melone legte er hinein, ein paar Kartoffeln, die sie im Supermarkt gekauft hatten, ebenfalls die Äpfel und einen Topf Schnittlauch. Ganz ehrlich? Wer pflanzte noch etwas an und erntete das dann? Um hinterher noch mehr Arbeit zu haben, wenn das Obst zur Marmelade gekocht wurde? Eigentlich war es ehrlicher, Marmeladengläser und Obstkonserven in die Körbe zu legen. Davon hatten dann auch die Senioren im Heim etwas, denn diesen wurden die Gaben gebracht. Bei der Vorstellung lachte Lea und erhielt von ihrer Mutter prompt einen Stups mit dem Ellenbogen. Sie solle sich gefälligst angemessen und erwachsen verhalten. Missmutig schaute Lea ihre Mutter an. Selbst Schuld. Hättest mich zu Hause gelassen, wollte Lea damit ausdrücken.

Als die Kinder neben dem Altar ihr Stück aufführten und ein paar Lieder sangen, wie sehr dankbar man für alles sein müsse, driftete Lea gedanklich ab. Sie wollte unbedingt wissen, ob Angela und John doch zusammenfinden würden und überhaupt wollte sie mit ihrer Freundin Antonia ins Kino.

Endlich standen alle auf und Moritz stand strahlend vor ihr. „War ich ein guter Baum?“ Moritz schaute erwartungsvoll. „Ein Baum sollte das sein?“ Lea wollte ihn unbedingt ärgern, weil sie seinetwegen ihren Tag anders gestalten musste als geplant. Jakobs Lächeln erlosch. „Blöde Lea“, wehrte er sich, schaute auf seine Schuhe, die jedes Mal blinkten, wenn er von einem Fuß auf den anderen trat. Den strafenden Blick ihrer Mutter ignorierte Lea. Jeder sollte so leben, als wäre es sein letzter Tag und ich bin nicht da, um so zu leben, wie ihr es wollt, waren die Argumente, die Lea vorgebracht hatte. Doch ihre Mutter akzeptierte das nicht. Das Obst und Gemüse sei symbolisch, denn es gab mehr als für das Essen dankbar zu sein. Darüber solle sie nachdenken.

„Also gut. Ich bin dankbar, dass Moritz Blinkschuhe hat, denn darüber freut er sich“, meinte Lea im Kirchenraum trotzig. „Holst du mit mir das Körbchen“, fragte Moritz seine große Schwester. Ihren rüden Umgangston hatte er bereits vergessen und vergeben. „Hol es dir selbst. Es ist dein Körbchen.“ Lea erteilte ihrem Bruder wieder eine Abfuhr. Der Kleine lief allein zum Altar und nahm das Erntekörbchen, das so schwer war, dass er es mit beiden Händen tragen musste. Trotzdem wackelte das Körbchen und ein Apfel und zwei Kartoffeln fielen heraus. Lea war schon dabei, die Kirche zu verlassen.

„Warte Lea“, rief Moritz und beeilte sich. „Geh zu Mama. Was willst du immer bei mir?“ Lea stolzierte hinaus und knackste um. Sie hatte die Kartoffel nicht gesehen, die auf der Stufe lag. „Danke. Soll ich mich jetzt dafür bedanken, dass die Kinder nicht auf ihre Sachen aufpassen können und ich mir jetzt den Fuß verstaucht habe?“ Leas Laune war am Gefrierpunkt angelangt. Sofort stand Moritz neben seiner Schwester. „Tut dir dein Fuß weh?“

„Geh weg und halte endlich den Mund, du Nervensäge.“ Moritz hielt sein Körbchen fest und beobachtete wieder, wie seine Schuhe bei jedem Tritt blinkten. Jetzt musste sie auch noch in die Ambulanz, ärgerte sich Lea auf der Fahrt dorthin. Ihre Mutter war stumm geblieben. Nur ihr finsterer Blick hatte sich ein wenig aufgehellt. Sie blickte süffisant, fand Lea und wartete auf Aussprüche wie „kleine Sünden, bestraft der liebe Gott sofort.“ Doch es blieb aus.

Ihr Fuß wurde bandagiert und Lea sollte den Fuß die nächsten Tage schonen. Das bedeutet kein Kino. Nachdem sie mit ihrer Freundin Antonia geschrieben hatte, warf Lea das Handy verärgert auf die Bettdecke. „Schöne Freundin. Dann geh doch mit Ronja ins Kino“, schimpfte Lea und hatte Wuttränen in den Augen. „Eine echte Freundin hätte auf das Kino verzichtet und mich besucht“, sagte Lea laut. Sie lag auf ihrer Bettdecke und versuchte das Buch, das sie auf den Boden geworfen hatte, vom Bett aus zu erreichen. „Warte, ich gebe dir das Buch“, sagte Moritz.

Er war ins Zimmer gekommen, sein großes Wimmelbuch in der Hand. „Was willst du?“, fragte Lea, etwas freundlicher als in der Kirche. „Jetzt bist du nicht mehr allein. Ich will dir etwas vorlesen“, sagte Moritz und legte sein Buch aufgeschlagen auf Leas Beine. „Siehst du? Hier hat sich der Fuchs versteckt, weil der Jäger kommt.“, Moritz deutete auf den Fuchsbau. Das Waldleben war der Buchtitel und Moritz liebte diese Wimmelbücher. „Soll ich dir etwas zu trinken holen?“, fragte Moritz nach ein paar Minuten. Lea schüttelte den Kopf.

„Komm rein. Jetzt lese ich dir etwas vor“, sagte sie und klopfte neben sich. Moritz kletterte auf Leas Bett und lauschte, wie die Geschichte mit Angela und John weiterging. „Sind sie jetzt Freunde?“, wollte Moritz wissen. „Mhm. Wir beide auch? Du bist ein echter Freund. Du bist hier bei mir, weil ich krank bin. Antonia nicht.“ Und du bist nicht nachtragend, denn ich war dir kein Freund und keine Schwester. Ich bin dankbar, dich zum Bruder zu haben. Du bist meine reiche Ernte, dachte Lea den Satz zu Ende.

Petra Malbrich

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