Das knisternde Holz war das erste, was Irina hörte, als sie wieder aufwachte. Sie brauchte drei Sekunden, um sich zu orientieren. Zu lang, empfand Irina, die dann sogleich nach dem Bündel neben sich tastete. Das kleine Köpfchen war kaum zu sehen. Noch immer war das Gesichtchen rot und zerknittert. Liebevoll strich Irina mit ihrem Zeigefinger über die runzeligen Wangen des Neugeborenen und dann über das kleine Händchen. Reflexartig ergriff die kleine Hand Irinas Finger. Als würde es damit sagen wollen lass mich nicht allein. „Mein kleiner Liebling“, flüsterte Irina dem Mädchen zu, das neben ihr im Bett lag, in einem gewebten Wolltuch eingewickelt. Vorsichtig blickte sich Irina um.
Die alte Frau hantierte unbeeindruckt an der Spüle, trocknete Geschirr ab und schaute aus dem schmutzigen Fenster hinaus ins Dunkel. Denn die Hütte war von Wald umgeben, wie so viele Hütten, die von Armen bewohnt waren. Abseits der Zivilisation. Manchmal hauste eine Großfamilie darin, teilte sich einen Raum zum Schlafen. Mehr als zwei Zimmer hatte auch die Hütte der alten Frau nicht. Auch Irina lebte etliche Kilometer entfernt in ähnlichen Zuständen. Aber Irina wollte so nicht mehr leben. Sie wollte eine gute Arbeit, Geld verdienen und in eine richtige Wohnung ziehen, aus gemauerten Wänden, keine Holzverhau, in dem durch alle Ritzen die Eiseskälte zog und man sogar im Winter mit dem Anorak ans Feuer setzen musste. Immer wieder schwärmte sie ihren Eltern und Brüdern vor, wie sie den Weg aus dem Armutssumpf schaffen wollte. Einen guten Schulabschluss würde sie machen, in die Stadt ziehen, in ein Wohnheim. Diese Sehnsucht, ihrem Schicksal zu entfliehen, brannte in ihr wie ein Feuer. Doch von Jahr zu Jahr schienen die Flammen kleiner zu werden. Es gab wohl kein Entrinnen. Es fehlte einfach am Geld und so blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zu fügen.
Sie war auf dem Weg zum Holzmachen, als sie von zwei fremden gutgekleideten Männern angesprochen wurde. Sie standen plötzlich vor ihr, wie aus heiterem Himmel. Eine attraktive, junge und gesunde Frau sei sie. Das sei sie doch? Dann erzählte einer der feingekleideten Herren etwas von einem Verwandten, der im Ausland lebte, und von dessen tragischem Schicksal durch den Tod dessen kleinen Sohnes. Als die Frau wieder schwanger wurde, gab es Komplikationen. Im Krankenhaus wurde sie operiert, doch leider passierte ein Fehler und die Frau konnte keine Kinder mehr bekommen. Er weinte beim Erzählen, als wäre es sein Schicksal. Irina hatte kein gutes Gefühl.
Geredet wurde zu Hause nicht viel, doch zwischendurch wurde immer wieder vor den mit Anzug gekleideten Männern geredet. Egal, ob diese aus ihrer Heimat waren oder aus anderen europäischen Staaten kamen. Meist führten sie nichts Gutes im Schilde. Sie entführten die jungen Frauen für besondere Dienste und sie entführten Mann, Frau und Kind, wenn irgendwelche Reichen Organe brauchten. Sollte sie je solchen Männern begegnen, solle sie die Beine in die Hände nehmen und so schnell sie konnte das Weite suchen. Das hätte Irina am liebsten getan, doch damit hätte sie ihre Angst verraten. Keck schaute sie den Männern deshalb ins Gesicht, ein paar tröstende Worte auf den Lippen. „Wir sind auf dem Weg zu Anastasia“, sagte der Wortführer und fügte noch einen langen Nachnamen an und den Ort, in dem sie lebte. Das war der Name von Irinas Dorf. Ob Irina diese Frau kenne, denn sie wäre bereit, für seine Schwägerin ein Kind auszutragen. Irina schüttelte den Kopf. Eine Anastasia gab es in dem Dorf nicht. Das sagte sie nicht laut.
Ihr war nun recht mulmig zumute. Sie zwang sich, nicht durch die Gegend zu schauen. Die Männer würden darin sofort ihre Angst erkennen. „Ist Anastasia vielleicht umgezogen? Wir hatten unseren Besuch natürlich angekündigt, aber sie antwortete nicht auf unseren Brief“, meinte nun der zweite Mann, der sich bisher still verhalten hatte. Irina zuckte mit den Schultern. Die beiden Männer schauten erst Irina eindringlich an, dann traten sie beiseite und tuschelten in einer fremden Sprache. Es klang wie Englisch. Ob es das war, wusste Irina ebenfalls nicht. Sie konnte gerade lesen und schreiben und die einfachsten Aufgaben rechnen.
„Wie alt bist du?“, fragte der Wortführer. „22“, flüsterte Irina. „Hast du einen Freund?“, hakte der erste nach. Was sollte Irina darauf antworten? Jede Antwort wäre verkehrt. Kurz darauf kam die Frage, die Irina bereits erwartet hatte. Ob sie bereit wäre, Leihmutter für das Kind seines angeblichen Schwagers zu sein. Irina hörte noch die Stimme ihres Großvaters, wenn er von Gerüchten erzählte, dass diese Reichen die Frauen dann entführten und gefangen hielten, um immer wieder zu gebären.
„20 000 Euro. Fünf sofort, den Rest, wenn das Kind da ist und wir es holen“, meinte der Mann. Konnte sie den Deal ablehnen? Wobei: Ein Deal war es nicht. Aber ihre Unterschrift vielleicht die Fahrkarte in die Freiheit und zunächst, am Leben zu bleiben. Also unterschrieb Irina, nahm das Geld und ging nach Hause. Von da an übernahm eine Frau, die mit Irina in die Klinik fuhr und alles Notwendige besorgte. Dass sie das Kind weggeben musste, störte Irina nicht. Ein Kind wollte sie in diese Armut ohnehin nicht setzen. Aber wenn das Kind da war und sie das Geld hatte, könnte sie das Land endlich verlassen und woanders neu anfangen. Das waren ihre Pläne.
Ab und zu redete sie mit dem Ungeborenen, wenn es mit sanften Tritten auf sich aufmerksam machte. Dann platzte die Fruchtblase. Irina hatte gerade den Boden der Hütte gekehrt, als es passierte. Es war drei Wochen vor dem Termin. Die Auftraggeber wussten nichts davon, denn die Ärzte gingen von dem errechneten Geburtstermin aus. Irina ließ sich auf den einzigen Schaukelstuhl in der Stube sacken. Sie war allein im Haus. Ihre Eltern waren in der Arbeit, die Großeltern mit den Brüdern bei der Waldarbeit. Irina starrte regungslos in das offene Feuer, dann kehrte das Leben in sie zurück. Sie packte ein paar Sachen ein und verließ das Haus, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.
Wie wenn sie verfolgt würde, rannte sie in durch die weiten Wälder. Siedlungen mied sie. Es dämmerte bereits, als Irina keine Kraft mehr spürte, bereits fieberte, völlig verfroren und hungrig auf den Boden sackte. Die Wehen wurden immer stärker, bis ein Kind zu schreien begann. Irina hielt ihre Hand auf den Mund des Neugeborenen. Sie durfte sie nicht durch ihre Schreie verraten. Irgendwann spürte Irina Hände an ihrer Schulter. Dann wurde sie bewusstlos. Sie hatte wohl viel geschlafen, dachte Irina, als sie in dem Bett in der Hütte aufwachte, das Baby frisch gewaschen in das Wolltuch gewickelt neben sich. Irina beobachtete das Mütterchen. Sie musste ihr geholfen haben. Sie hatte das Baby gerettet. Trotzdem traute Irina dem Mütterchen nicht, das nun ein weiteres Holzscheit in den Kamin steckte, damit es in der Stube warm blieb.
„Du kannst nicht hier bleiben. Wenn du wieder kräftig wirst, musst du gehen“, brummte die Alte. Sie wischte wieder mit dem Tuch über die Spüle. „Aber eigentlich ist es egal. Sie werden dich finden“, fügte die alte Frau an. Irina schloss den Mund wieder. Die Frage kam ihr nicht über die Lippen.
Nun drehte sich die alte Frau um. Sie hatte Tränen in den Augen. „So ist das nun mal. Wenn es dir ein Trost ist, lass dir sagen, dich trifft keine Schuld. Wenn du nicht darauf eingegangen wärst, hätten sie dich gezwungen. So bist du wenigstens am Leben.“ Dass das nicht gewiss war, behielt die alte Frau für sich.
Irina schaute in das Gesicht ihres Babys. Es blinzelte ein wenig. Es war noch so klein und hilflos, es konnte noch nicht einmal die Augen richtig öffnen. „Ich nenne sie Feodora. Geschenk Gottes, heißt das“, flüsterte Irina. „Was passiert mit ihr?“, fragte Irina. Die alte zuckte die Schulter. Allein der Gedanke, ihrer Tochter könnte Schlimmes passieren, brachte in Irina die Flammen wieder zum Lodern. Sie würde es schaffen, sie würde mit ihrem Kind über die Grenze fliehen und dort ein neues Leben beginnen. Die alte Frau brachte Irina einen warmen Tee ans Bett. Als sie Feodora ansah, trat ein trauriges Lächeln ins Gesicht der Frau. „Woher wissen Sie?“, fragte Irina. Mit dem Kopf deutete die Alte auf einen Bilderrahmen auf der Kommode neben dem Bett. Eine Frau mit einem Baby war auf dem Bild zu sehen. „Ihre Tochter?“ Die Alte nickte. „Sie war einkaufen. Dann kamen zwei Männer.“
