Das gebrochene Herz

Schon eine ganze Woche lang hatten Timo und Finn den alten Mann beobachtet. Von der Buschreihe aus, der natürlichen Begrenzung des Spielrasens zum Aussichtsplatz mit der Parkbank. Dorthin schlürfte der alte Mann, dessen Erkennungszeichen die blaue Baseballmütze und der beige Parka waren. Er blieb stehen, leicht gebeugt und schaute ins Tal. Wie jeden Tag. Dann rieb er mit dem Handrücken über die Augen, schlappte schwerfällig zur Bank und setzte sich. Timo und Finn schauten sich an, schon jetzt die Hand an den Mund haltend, um nicht los zu prusten, wenn der alte Mann mit seinen Selbstgesprächen beginnen würde. Der alte Mann legte seinen Baumwollbeutel neben sich und kramte etwas umständlich eine Brotzeitdose hervor, öffnete diese und hielt den Inhalt einem unsichtbaren Gegenüber unter die Nase. „Marie, sieh, ich habe dir deine Lieblingswurst aufgestrichen. Diese Teewurst hast du immer am liebsten gegessen. Weil es oft das Einzige war, das wir als Kinder bekommen hatten. Auch wenn andere am Wirtschaftsaufschwung teilhaben konnten. Unsere Eltern waren nicht dabei, mussten trotzdem jeden Pfennig drei Mal umdrehen.“ Der Mann biss anstelle der unsichtbaren Marie von dem Brot ab, kaute und starrte in das Tal. „Ich habe diese Wurst nie gemocht und trotzdem hast du sie mir so oft aufs Brot geschmiert, wenn ich zur Nachtschicht ging. Jedes Mal war ich richtig sauer auf dich. Du hast immer gedacht, was dir schmeckt oder dir gefällt, muss zwangsläufig auch mir gefallen. Du hattest diesbezüglich wenig Einfühlungsvermögen und wenn ich dich darauf hingewiesen habe, hat es dich nicht interessiert. Du bist eine richtig sture Frau, Marie. Habe ich dir das schon gesagt?“ Der alte Mann war nun verärgert, wie Timo und Finn erkannten. Mit einer Wucht warf er das Wurstbrot in die Dose zurück und starrte weiter ins Tal. „Weißt du eigentlich, wie sehr es mich genervt hat, dass du dein Wort so oft gebrochen hast? Der alte Mann beugte sich ein wenig vor und neigte sich weiter nach links, um mit der unsichtbaren Person besser reden zu können. „Du hattest mir sogar versprochen, diese grässliche Teewurst nicht mehr auf mein Brot zu streichen. Trotzdem hast du es immer wieder gemacht. Du hattest mir auch versprochen, den Aufnäher mit dem Kleeblatt wieder an diese Baseballmütze zu nähen. Auch das hast du nie gemacht. Nie. Weil das nicht dein Verein war. Weil dich Fußball nicht interessierte. Weil du eine störrische Frau warst.“ Der alte Mann redete lauter, drehte sich dann beleidigt weg und starrte auf den Wald, der in der Ferne von der rechten Seite der Bank aus zu sehen war. Timo kicherte leise, was ihm einen Ellenbogenknuff von seinem Freund Finn einbrachte. Der alte Mann schwieg beharrlich. Eine Viertelstunde geschah nichts und die beiden Freunde überlegten bereits, ihr Versteck an der Buschreihe zu verlassen. Es sah aus, als wäre der Alte eingeschlafen. Er schreckte hoch, schaute sich um, als müsste er sich orientieren. Dann blickte er auf den leeren Platz an seiner Seite und nickte. „Dass du das Kleeblatt nicht angenäht hast, dafür will ich dir keinen Vorwurf machen. Doch dass du mir immer wieder gerade zur Nachtschicht diese Teewurst aufs Brot gestrichen hast, das nehme ich dir krumm. Du hast dein Wort nicht gehalten. Am wenigsten aber hast du Wort gehalten, als wir sagten, wer von uns zuerst geht. Ich wollte zuerst gehen. Ich. Doch du störrische Person hast das nicht akzeptiert. Natürlich musstest du zuerst gehen. Was ist nun mit mir?“ Der alte Mann schaute wieder weg, döste kurz ein und stand ein paar Minuten später erschrocken auf. Es schien als müsste er sich erinnern, was in den vergangenen Minuten geschah. „Dass ich nun alleine hier bin, ist dir egal, Marie. Dir war auch egal, ob ich den Urlaub lieber in den Bergen verbracht hätte. Du wolltest ans Meer, also sind wir ans Meer gefahren. Es war dir auch egal, ob ich lieber blaue Pullover angezogen hätte. Du hast mir immer braune und beigefarbene gekauft. Dir war das alles egal. Vor allem, dass ich diese Teewurst nicht auf meinem Brot haben wollte.“ Der alte Mann schrie diese Worte in das Tal hinab. Er redete sich in Rage. Plötzlich sackte er zusammen, schrie vor Schmerzen auf und hielt die Hand an die Brust. „Ruf den Notarzt“, sagte Timo. Finn zog das Handy aus seiner Tasche und tippte den Notruf, während Timo zu dem alten Mann lief und versuchte mit ihm zu reden. Kurz darauf kamen die Sanitäter mit Blaulicht angefahren. Noch einmal kam der alte Mann kurz zu Bewusstsein und streckte seine Hand suchend aus. Finn nahm die Hand des alten Mannes und drückte sie leicht. Der Mann lächelte glücklich. „Marie, du bist wieder bei mir. Du hast dich doch an mich erinnert. Wir haben immer alles gemeinsam gemacht. Sieh, ich habe dir ein Wurstbrot geschmiert. Die Teewurst, die du so gerne isst“, flüsterte der alte Mann und schloss die Augen. Der Notarzt tastete nach dem Puls und schüttelte dann den Kopf. Finn hielt noch immer die schlaffe, kalte Hand des alten Mannes. „Marie“ hörte Finn den alten Mann noch immer rufen, als Finn den Weg wieder hinab lief. Er würde nie mehr Teewurst essen.

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