
Der angekündigte Sturm fegte durch die Straßen. Rainer hatte alles sturmfest verpackt. Dachte er. Doch das unablässige Schlagen der Tür des Schuppens an den Holzrahmen, vermittelte ihm etwas anderes. Auch das Rollo bewegte sich mit den Windböen. Das laute Geklapper nervte Rainer. Unruhig wälzte er sich im Bett hin und her, zog die Bettdecke über den Kopf, um den Lärm nicht mehr hören zu müssen. Dann stand er auf, zog das Rollo ein Stück nach oben. In dem Moment blitzte und donnerte es. Rainer erschrak fürchterlich, zuckte zusammen und wich einen Schritt zurück. Es war zu mild in den vergangenen Tagen. Verrücktes Wetter. Gewitter und Stürme im tiefsten Winter. Bei dem Wort spürte er einen Stich in seiner Herzgegend. Winter. Das Wort gefiel ihm nicht.
Doch, als Kind liebte Rainer den Schnee. Nach der Schule wurde der Schulranzen in die Ecke geworfen und der Alltagsanorak und die gefütterten Gummistiefel angezogen. Schnell den Schlitten geholt und los ging es mit den Schlittenfahrten den Berg hinab, bis es dämmerte. Die Hände waren trotz der gestrickten Handschuhe so kalt, dass sie kribbelten als wären sie taub und abgestorben. Der Winter. Das waren in seiner Kindheit und Jugend die hellsten Tage. Das glitzernde Weiß des Schnees leuchtete sogar nachts im Zimmer noch. Und selbst an den etwas trüben und grauen Wintertagen, war diese Jahreszeit mit Freude belegt. Wie sehr genoss er es, bei den heftigen Regen- und Hagelschauern in der warmen Stube zu sitzen, ein Buch zu lesen, einen Film zu schauen oder sich träumend in die Bettdecke zu kuscheln. Jeder Winter hatte seinen Reiz und auf jeden Winter folgte ein Frühling.
Er hätte nicht aufstehen sollen, dachte Rainer. Jetzt war es mit der Nachtruhe vorbei. Er ärgerte sich, wusste, dass er nicht mehr einschlafen würde. Gereizt zog er seinen Bademantel über den Schlafanzug und schlürfte in die Küche. Es war vier Uhr. Er schaltete die Kaffeemaschine ein und setze sich auf den nackten Stuhl. Das Ticken der Uhr reizte ihn. Mit den Fingern trommelte er auf den Tisch, immer schneller, als würde er damit die Kaffeezubereitung beschleunigen können. Dann hielt er inne. Beschleunigen. Das Wort mochte er genauso wenig wie Winter und das eigentlich gleichmäßige Ticken der Uhr wirkte auf ihn als würde es mit jeder Sekunde schneller gehen.
Rainer hämmerte mit der Hand an seine Stirn. So sehr er das Singleleben genoss, wurde es nun im Alter für ihn zur Beschwernis. Die Einsamkeit war manchmal erdrückend, je mehr das Alter voranschritt, desto bedrückender und besorgniserregender wurde es für ihn.
Er war ein Winterkind, sagten seine Eltern immer. Diese würden besonders lange leben, sagten sie. Doch wenn er den Lebenszyklus in Jahreszeiten teilte, dann war er mit seinen 60 Jahren am Ende des Herbstes angekommen. Der Winter stand vor der Tür. Das versetzte Rainer in Angst und Panik und zu schlaflosen Nächten, besonders wenn es im Winter diese rauen, unruhigen Stunden gab, wie jetzt bei dem Sturm.
Die Kaffeemaschine röchelte. Das Wasser war durchgelaufen, die gemahlenen Kaffeebohnen verströmten einen angenehmen Duft. Wie wenn man gerade heimgekommen wäre und freudig begrüßt wurde. Es klapperte erneut, doch dieses Mal heftiger als zuvor. Ein Laut vermischte sich mit dem bedrohlichen Rauschen des Windes. Rainer stand auf, zog das Rollo hoch und zog die Gardine beiseite. Es war noch stockfinstere Nacht. Er konnte nichts sehen, ging zurück und setzte sich mit seinem frisch aufgebrühten Kaffee auf den harten Stuhl.
Was wollte er hier, fragte er sich, vorsichtig an dem heißen Getränk nippend. Erst vor wenigen Monaten hatte er seinen Hund begraben müssen. Seine Emma und er waren ein gutes Team, das sich auch ohne Worte verstand. Emma liebte es, bei diesem Wetter spazieren zu gehen, die Schnauze in die Mäuselöcher zu stecken oder sich im Schnee zu wälzen. Das war ihr nie zu kalt. Er wollte kein Tier mehr. Was, wenn er sterben würde? Immerhin war sein Lebens- Herbst bald zu Ende und der Winter stand vor der Tür.
Es donnerte erneut. Das grelle Licht des Blitzes erhellte für wenige Sekunden das Fenster. Zu kurz, um auf diese Entfernung etwas vom Garten zu sehen. Aber da war es wieder, das Geräusch. Es klang, als ob sich ein Tier verletzt hätte. Rainer stand auf, holte die Campinglaterne, zog seine Winterjacke und die Winterstiefel an und stapfte nach draußen. Außer den einmal besänftigenden, dann wieder aufbrausenden Geräuschen des Windes, war nichts zu hören.
Rainer wollte gerade wieder umkehren, als das verängstigende Jaulen wieder erklang. Es schien aus dem Schuppen zu kommen, dachte Rainer und schüttelte gleich den Kopf über seine unsinnigen Gedanken. Er hatte am Vorabend die Tür außen verriegelt, wie sollte ein Tier das öffnen können? Rainer lief zum Schuppen. Die Tür war tatsächlich entriegelt. Vorsichtig leuchtete er mit der Laterne hinein. Zwei verängstigende Augen starrten in das Licht. Augen, die einem kleinen Terrier gehörten, der versuchte, sich in seinem Hundekorb unsichtbar zu machen. Rainer stellte die Laterne auf dem Boden ab, ging auf den Hund zu. Er duckte sich. „Hab keine Angst, ich tue dir nichts. Aber ich würde schon gerne wissen, wie du hierher kommst“, flüsterte Rainer.
Dann sah er den Briefumschlag im Korb. Mit geübten Fingern öffnete Rainer den Umschlag und zog ein Blatt heraus. „Ich darf ihn nicht behalten. Aber Sie können ihm ein gutes Zuhause geben. Danke. Mit lieben Grüßen Jens“, las Rainer die Nachricht. Jens, der kleine Tierliebhaber, der einige Häuser entfernt lebt. Ja, seine Hündin hatte geworfen. Es musste schwer für den Jungen sein, die Welpen abzugeben, dachte Rainer und bückte sich zu dem zitternden Bündel im Hundekorb. Die Seite mit Jens Nachricht hatte Rainer noch in der Hand. Es war eine Seite aus einem Fotokalender, wie Rainer an dem Bild darauf erkannte. „Der Herbst ist der Frühling des Winters“ las Rainer die Bildunterschrift, während er in Gedanken eigentlich schon dabei war, einen Namen für den Welpen zu finden.
Aber da war das andere Wort. Das kraftspendende und hoffnungsvolle Wort Frühling. Auch wenn der Winter vor seiner Lebenstür stand, so durfte er doch noch Freude erleben und Farbe ins Leben lassen. Rainer lachte, als er den kleinen Sam mit ins Haus nahm, der sich sofort an die Sofaecke kuschelte. Der Sturm tobte noch immer. Nur hatte er seine Bedrohlichkeit verloren. Rainer genoss es, sich in der warmen Stube aufs Sofa zu setzen, wie in seiner Kindheit und Jugend.