Das zerschnittene Tuch

Strähnen ihres ungewaschenen Haares hingen Gisela ins Gesicht, als sie sich mühsam in die Küche schleppte, um das Geschenk für ihr Patenkind auf den Tisch zu legen. Das Geschenkpapier legte sie daneben. Die Hunde der Paw Patrol Staffel waren darauf abgebildet, weihnachtlich gekleidet. Das waren die Tiere, die Zoé am besten gefielen. Gisela hoffte, dem kleinen Mädchen bereits damit eine Freude zu bereiten. Immer wieder stützte sie sich beim Ausrollen des Geschenkpapiers am Tisch fest. Nur mühsam konnte Gisela stehen. Sie hatte nach ihrer wochenlangen Krankheit und der Operation noch keine Kraft dazu. Alle Knochen schmerzten und die Nachwehen ihrer Lungenentzündung, die sie sich dann noch einfing, erschwerten das Atmen noch immer. Keiner aus der Familie wusste, wie es ihr ging. Es schien auch niemanden zu interessieren. Sie hielten Familientreffen ohne sie. Das Telefon klingelte nicht. Auch per Messenger kamen keine Nachrichten. Nur die Anfrage ihres Bruders: „Du schenkst doch Zoé den Kaufladen?“ Es war eher eine Feststellung, denn auf Gisela war Verlass. Sie war die Schwester, die immer da war, wenn sie gebraucht wurde und immer half, als wäre es selbstverständlich. Sie war die Schwester und Tochter, die ein offenes Ohr hatte, aber deren Lebenssituationen nie gehört werden wollten. Sie war die Tante, die man grüßen musste, um ein wenig Anstand zu wahren. Und schließlich wusste man nicht, wozu man Gisela noch brauchte. Aber sie war auch die Frau, die dann nicht mehr erwünscht war und lieber fern bleiben sollte. „Du kannst ohnehin nicht bleiben, sicher fühlst du dich noch schwach“ oder so ähnlich lauteten die geschickten Ausreden. Denn darin war Rücksichtnahme versteckt und so sah es nie wie eine Ablehnung aus.

Gisela hatte das Papier inzwischen ausgerollt und das Playmobilhaus auf den Tisch gehoben. Als sie das Geschenk betrachtete, bekam sie ein schlechtes Gewissen. Ihr Bruder hatte doch ausdrücklich von einem Kaufladen gesprochen. Doch Gisela hatte sich derart über den Tonfall der Botschaft geärgert, dass sie aus Trotz ein Playmobilhaus gekauft hatte. Was konnte ihr Patenkind dafür, fragte sich Gisela, als sie den Karton auf das Geschenkpapier stellte. Das Geschenk ist auch schön, versuchte Gisela ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen und begann, das Papier im passenden Maß abzuschneiden. Es ging nicht leicht. Gisela musste doch Kraft aufbringen, um die Schere zu bewegen. Das lag wohl noch an ihrer Erschöpfung, obwohl die OP schon zwei Wochen zurücklag. Sie schloss die Augen, um Kraft zu schöpfen, atmete nochmal tief durch und bewegte die Schere wieder auf und zu, um sie einen weiteren Millimeter zu bewegen. Für Zoés größeren Bruder Jens hatte Gisela eine Sporttasche im Angebot gekauft. Das war für die Markentasche immer noch teuer genug. Jedes Jahr an Weihnachten brauchte sie für die Geschenke so viel Geld, wie ihr eigentlich monatlich zum Leben zur Verfügung stand. Doch auch das interessierte niemanden. Als sie einmal beschlossen hatte, weniger zu geben, wurde sie als Geizkragen und geldgierige Person beschimpft. Sie bekam doch auch keine großen Geschenke, rechtfertigte Gisela ihr Verhalten. Denn die bösartigen Beschimpfungen hatte sie natürlich gehört, als die Geschenke vergangenes Weihnachten ausgepackt worden waren. Irgendetwas machte sie falsch. Die anderen konnten tun und handeln wie sie wollten, doch tat Gisela es ihnen gleich, wurde sie beschimpft. Freundlichkeit wurde ihr nur entgegengebracht, wenn sie einen Gefallen erledigen sollte. Wenn sie am Wochenende oder nach ihrem wohlverdienten Feierabend anderen Gefälligkeiten erledigen durfte. Das war dann beim nächsten Treffen wieder vergessen und ihr wurden wieder Unfreundlichkeiten an den Kopf geworfen. Wenn sie nur endlich einmal vor ihrer eigenen Tür kehren würden oder sich fragen, wie es im umgekehrten Fall wäre. Doch selbst wenn Gisela das anbrachte, wurde ihr das Wort abgeschnitten. Jens wollte eigentlich Geld. Doch Gisela fand es ungehörig, sich Geld zu wünschen. Sie hätte sich in ihrer Jugend nicht getraut, Geld als Geschenk zu fordern. Sie hätte sich gefreut, aber nie gefordert. Als sie all die Jahre Geld geschenkt hatte, war die Antwort entweder ein freundliches Grinsen, wenn der Betrag groß genug war oder ein gelangweilter Blick, wenn es den Erwartungen nicht entsprach. Auf beides hatte Gisela keine Lust mehr. Sie drückte die Schere noch einmal fest, um die Klingen endlich durch das Geschenkpapier zu bewegen. Gisela gab auf, legte die Schere beiseite, schob das Geschenk weg und wollte das Papier gerade zerreißen, als sie das Desaster sah. Sie hatte das Tischtuch erwischt. Beim Ansetzen der Schere an das Geschenkpapier, hatte sie das Tischtuch dazu genommen. „Das Tuch ist zerschnitten“, murmelte Gisela. Ernüchterung setzte ein. Ja, das Tuch war längst zerschnitten. Es machte wenig Sinn, es für einige Sekunden zusammenhalten zu wollen. Es war zerschnitten. Es wird nie mehr ganz. Nach dieser Ernüchterung setzte Erleichterung ein. Sie musste nichts dergleichen tun, denn sie war nicht willkommen. Das Tuch war zerschnitten. Es war kaputt. Wie wenn ihr diese Erkenntnis Kraft verliehen hätte, stand Gisela auf und packte die restlichen Geschenke ein. Nebenan wohnte eine kinderreiche Familie, die wenig Geld besaß und ihren Kindern oft nur gebrauchte Spielsachen schenken konnte. Am Abend klingelte Gisela, um den Nachbarskindern die Weihnachtsgeschenke zu überreichen. Noch nie hatte Gisela so viel Freude in den Augen gesehen und noch nie ein echtes Lachen, wenn man sie erblickte. Kurz darauf erhielt sie eine Nachricht auf dem Handy. „Wo bleibst du“, stand dort. Keine Begrüßung, keine Nachfrage, ob es ihr überhaupt gut ginge. Nichts. Es ging immer nur um die anderen. Gisela hatte das Tischtuch fotografiert und schickte das Foto als Antwort. „Das Tuch ist zerschnitten“, schrieb sie. Ohne Begrüßung, ohne Nachfrage. Als sie die Handyhülle wieder schloss, klopfte es an ihrer Tür. Gisela solle mit ihnen das Weihnachtgericht essen, baten die Nachbarskinder und führten Gisela an der Hand. Gisela hatte das Gefühl, sich langsam von der OP zu erholen. Sie fühlte wieder Kraft in den Armen, den Beinen und im Herzen.

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