Die Unglücksamsel

Zufrieden betrachtete Magdalena ihr neues Töpferwerk. Es war ihr gelungen, den fast menschlichen eindringlichen Blick der Amsel festzuhalten. Den Kopf hielt sie leicht seitlich geneigt und wippte ihn rauf und runter, während sie beschwörend auf den Menschen blickte, als wollte sie ihm etwas Wichtiges sagen. „Warum hat die Amsel nur einen Fuß“, fragte Magdalenas Enkelin Eva. „Weil sie von den Menschen gejagt und verletzt wurde“, meinte Magdalena.

„Warum wurde sie von den Menschen gejagt?“ „Die Leute glaubten, die Amsel bringe Unglück“, erklärte Magdalene. „Warum glaubten die Leute das“, wollte Eva wissen. „Weil viel Unheil geschah“, erklärte Magdalena und dachte nach. „Hast du schon einmal das eindringliche Rufen einer Amsel gehört, wenn sie ihre Artgenossen vor Gefahr warnen möchte“, fragte Magdalena ihre Enkelin nach einem Moment des Schweigens. „Ja, das klingt wie Bibb, bibb, bibb“, sagte Eva nickend.

„Genau so war es vor einem Jahr. Die Amsel war auf dem Bauernhof gehört und gesehen worden. Sie bereiteten gerade die Hochzeit vor und die Frauen hatten alle Hände voll zu tun. Der Bräutigam wollte mit dem Traktor nochmal aufs Feld fahren, um die Saat auszubringen. Da fing die Amsel an. Bibb, bibb, bibb rief die Amsel und flog immer in die Nähe des Bräutigams. Zuletzt setzte sie sich sogar auf den Überrollbügel des Traktors und bibbte wieder eindringlich. Der Bräutigam verscheuchte die Amsel, fuhr aufs Feld und keine Stunde später erfuhren die Bauersleut´, dass er auf der Hangwiese einen Unfall hatte. Schwer verletzt wurde er ins Krankenhaus gebracht, verstarb dann aber an den Unfallfolgen.“ Eva hielt die Luft an. „Deshalb haben sie die Amsel verfolgt“, hakte Eva nach.

„Da noch nicht“, meinte Magdalena. „Ein paar Tage später war die Amsel auf einem anderen Grundstück anzutreffen. Dort spielten zwei Jungen um den Gartenteich herum. Sie spielten bis sie auf die eindringlichen Warnrufe der Amsel aufmerksam wurden. Bibb, bibb, bibb, machte die Amsel und flog von Ast zu Ast. Sie drehte den Kopf seitlich, wie die Amsel, die ich vorhin getöpfert habe und rief immer weiter und immer lauter ihre Warnrufe aus. Der kleinere Junge stolperte und fiel so unglücklich in den Gartentümpel. Als der ältere Junge Hilfe holte und der kleine aus dem Teich gezogen werden konnte, war es für den Jungen schon zu spät“, erzählte Magdalena. „War der Junge gestorben“, fragte Eva. „Nein, das weißt du doch. Du siehst ihn manchmal im Garten sitzen. Aber durch den Sauerstoffmangel war sein Gehirn geschädigt worden. Er ist geistig nicht mehr wie er war und er wird auch nicht mehr gesund“, sagte Magdalena.

„Dann haben die Dorfbewohner die Amsel gejagt“, fragte Eva. „Noch nicht. Die Amsel wurde noch in einem anderen Garten angetroffen, wieder kurz nach dem zuletzt geschehenen Unglück. In dem Haus lebte eine ältere Frau alleine. Sie saß in ihrem Gartenstuhl und freute sich an der Farbenpracht der Blumen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen als sie aus dem Baum heraus den Warnruf der Amsel hörte.“

„Bibb, bibb, bibb“, unterbrach Eva, gespannt, was dieser älteren Frau nach dem Warnruf der Amsel passierte. „Erzähl schon, Oma. Was ist der Frau passiert“, drängte Eva. „Die Frau war erschrocken, denn dass immer eine Amsel bibbte, wenn Unheil passierte, hatte sich inzwischen herumgesprochen. Also schaute sich die Frau vorsichtig um, wo die Amsel sich versteckt hatte. Kurz darauf zeigte sich die Amsel. Sie saß auf einem Ast in dem Kirschbaum, unter dessen Baumkrone sich die Frau gesetzt hatte. Die Amsel legte den Kopf wieder seitlich und bibbte eindringlich“, erzählte Magdalena und hielt inne.

„Oma. Erzähl weiter. Ich weiß immer noch nicht, was mit der alten Frau passierte“, meinte Eva ungeduldig. „Die Frau wollte aufstehen, was ihr nicht so recht gelingen wollte. Angeblich aus Angst vor der Unglücksamsel hatte sie einen Schlaganfall bekommen, wurde erzählt“, sagte Magdalena. „Dann wurde die Amsel gejagt“, vermutete Eva. Magdalena nickte. „Natürlich. Jeder hatte Angst, dass ihm Unheil und Unglück geschehe. Also jagten viele Dorfbewohner die Amsel. Sie legten Schlingen aus, legten sich auf die Lauer, auch mit dem Gewehr, um auf die Amsel zu schießen“, sagte Magdalena.

„Woher wussten die Leute, welche Amsel die Warnungen rief“, fragte Eva aufgebracht. „Sieh“, sagte Magdalena und nahm ihre getöpferte Amsel in die Hand. „Die Amsel hatte unter dem linken Auge einen kleinen weißen Fleck“, verriet Magdalena und deutete bei ihrer Tonamsel auf diese Stelle. „Das konnten die Leute aus der Ferne überhaupt nicht sehen“, empörte sich Eva. „Haben sie die Amsel erwischt“, fragte Eva. „Ja und Nein. Die Amsel verhedderte sich in einer der Schlingen. Beim Versuch sich zu befreien, amputierte der scharfe Draht den Fuß der Amsel. Sie bibbte immer lauter und heftiger. Je lauter die Amsel bibbte, desto mehr wurde sie von den Leuten gejagt. Da ein Fuß fehlte, war sie noch leichter erkennbar. Irgendwann suchte sie hier im Garten Unterschlupf“, sagte Magdalena.

„Bald merkte die Amsel, dass sie hier sicher war und hüpfte munter umher, wenn sie in der Erde nach Regenwürmern suchte. Das sah traurig aus, denn das Bein ohne Fuß sah aus wie eine dünne zerbrechliche Bleistiftmine“, sagt Magdalena und zeigte auf das kaputte Bein der Tonamsel. „Warum haben die Leute die Amsel überhaupt gejagt? Sie hat den Menschen doch nicht das Unheil gebracht. Vielleicht hat sie die Leute gewarnt, dass etwas passieren wird“, meinte Eva nachdenklich. „Vielleicht“, meinte Magdalena. „Aber so ist der Mensch. Er braucht immer jemanden, den er für Unglück verantwortlich machen kann.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert