„Lichtblicke“

Die Nachrichten waren seit zwei Jahren die gleichen. Nur die Reihenfolge hatte sich nun verschoben. Corona. Elisabeth konnte das Wort nicht mehr hören. Sie stand auf, schaltete das Radio wieder aus und setzte sich auf das Sofa. Schon wieder wurde sie von einem Weinkrampf geschüttelt. Mit Corona begann alles. Das Leben, das sie nicht mehr Leben nennen wollte.

Ihr Mann war ein Pflegfall, doch dann redete jeder nur noch von Corona. Elisabeth durfte ihren Mann nicht mehr sehen. Besucher mussten draußen bleiben. Aber sie war doch kein Besucher. Sie waren sechzig Jahre verheiratet, konnten sich auch ohne Worte unterhalten. Sie wusste, was Erwin brauchte und was er sagen wollte, noch bevor er es aussprach. Mit ihren Gichtfingern fischte Elisabeth nach einem Taschentuch, wischte sich die Tränen ab. Plötzlich musste Erwin ins Krankenhaus. Auch dort durfte sie ihn nicht besuchen. Er brauchte mich doch, flüsterte Elisabeth, wiederholte das immer wieder. Sie hatte das Gefühl, ihren Mann in seinen letzten schwersten Stunden im Stich gelassen zu haben. Sie fühlte sich verraten und verkauft, kam sich wie eine Versagerin vor und entschuldigte sich immer wieder bei dem Bild, das sie mit ihren gekrümmten Fingern hielt.

Obwohl sie in ihren Gedanken schwelgte, war die Stille im Wohnzimmer unerträglich geworden. Elisabeth stand wieder auf und schaltete das Radio an. Corona ist verdrängt worden. Nun wurde an erster Stelle über den Krieg in der Ukraine erzählt. Bei den Fernsehnachrichten schaltete Elisabeth den Ton aus. Den unerträglichen Lärm der Explosionen hatte sie noch immer im Ohr.

Ein Kind war sie gewesen, als die Sirenen heulten und sie mit ihrer Mutter in den Luftschutzkeller rennen musste, weil die Bomber über die Stadt flogen. Geweint hatte Elisabeth, weil sie ihren Teddybären vergessen hatte. Dann hatte sie von ihrer Mutter eine Ohrfeige bekommen. Sie solle endlich aufhören zu weinen und still sein. Heute wusste Elisabeth, dass bei den Frauen im Bunker die Nerven blank lagen. Sie sorgten sich um ihre Männer und mussten ihre Kinder allein trotz Bombardierung, trotz Lebensmittelrationen satt bekommen. Auch die Frauen hatten Angst. Nur durften sie diese nicht zeigen. Fast zur gleichen Zeit, als Elisabeth mit den anderen Frauen und Kindern aus der Straße im Luftschutzkeller wartete, dass der Fliegerangriff vorbei war, marschierte Erwin mit seiner Familie los. Einen Koffer hatten sie in der Hand. Mehr konnten sie bei der Flucht aus ihrer Heimat nicht mitnehmen. Auch Erwin weinte, wusste Elisabeth. Oft genug hatte er das erzählt, wenn sie in den Nachrichten das Kriegsgeschehen auf der ganzen Welt verfolgt hatten. Es war immer weit von ihnen entfernt. Doch das Leid, das viele unschuldige erfahren mussten, schmerzte Elisabeth und Erwin wie damals, als sie selbst betroffen waren. Und nun drohte wieder ein Krieg vor der Haustür. Nun, im Alter.

Elisabeth fröstelte, stand auf und ließ das Rollo herunter. Nicht weil es dunkel war oder die Sonne zu sehr blendete. Ihr Gemüt war verdunkelt und es war Elisabeth, als könnte sie damit die schlechten Nachrichten aussperren. Es klingelte an der Haustüre. Die junge Frau gegenüber, die ihre Tochter sein könnte, hatte die geschlossenen Rollos gesehen. Elisabeth sah die rot geschwollenen Augen der Frau. Sie hatte geweint, dachte Elisabeth. Die junge Frau hatte Verwandte in der Ukraine. Natürlich war sie besorgt, dachte Elisabeth.

„Doch, bei mir ist alles in Ordnung. Aber Sie sehen aus, als würde ihnen ein kleiner Spaziergang gut tun“, meinte Elisabeth und holte ihre Jacke, bevor die junge Frau antworten konnte. Sie liefen die Straße entlang, bis sie zu dem Feldweg gelangten, der zum Waldrand führte. „Sorgen drücken nur nieder. Wenn man immer auf den Boden schaut, sieht man das Weite nicht. Es geht aber immer irgendwie weiter“, versuchte Elisabeth der jungen Frau Mut zuzusprechen. Sie waren bei den Holzstämmen angelangt. Zwischen all den dicken Baumstämmen hatte sich eine Osterglocke den Weg an die Sonne gesucht. Elisabeth setzte sich auf den Stamm, um ein wenig auszuruhen, als ihr Blick auf die Osterglocke fiel. „Sehen Sie, auch im tiefsten Dunkel gibt es einen Lichtblick.“

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