
Schon wieder „Extrem“. Extremhitze, extremes Unwetter, extreme Ozonwerte, extreme Verschmutzung. Mila konnte das Wort nicht mehr hören. Sie schaltete den Fernseher aus und ging in den Garten, wo eine Amsel leise piepend verzweifelt auf die Eltern wartete. Andere Vögel flogen mit Mücken, Grashüpfern und Regenwürmern im Schnabel vorbei, um ihren Nachwuchs zu füttern oder balzten. Instinkt, dachte Mila. Besser als denken. Eine Katastrophe nach der anderen. Selber Schuld. Mila wollte nicht mehr denken. Das „Denken können“ war wohl der Untergang der Menschheit. Nicht jeder hatte gute Gedanken. Nicht jeder kannte Rücksicht, nicht jeder den besseren Mittelweg.
Doch welche Gedanken waren richtig? Wer entschied das überhaupt? Wer entschied, was richtig, was nichtig und was extrem war? Überhaupt schien es nur noch Extreme zu geben, als ob ein neuer Sport draus geworden ist, jedes Extrem zu überbieten. Trend ist es allenfalls geworden. Da sind die Frauen, die keine Kinder in die Welt setzen, weil diese zu viel CO2 verursachen und auf der anderen Seite der Weltraumtourismus, der forciert. Da sind die Leute, die um das Klima zu schützen anderer Leute Sachen zerstören und auf der anderen Seite Menschen – manchmal sind es auch die selben, weil sie genug Geld haben – die in ihrer „Freizeit“ um die Welt fliegen und mit ihren elektronisch modernsten Ausrüstungen für die Ausbeutung der Menschen in den Entwicklungsländern, für die Abholzung des Regenwalds und des nicht ganz ungefährlichen Abbaus der seltenen Erden verantwortlich sind.
Da sind die Menschen, die alles horten und andere, die auf Minimalismus setzen. Nicht zu vergessen, die neuen Natur-Trendsetter, die mit Alpakas durch den Wald laufen, um zur Ruhe zu kommen und durch diese gewonnene Entspannung dann konzentriert ihre Yogaübungen auf der Wiese neben dem Wald ausführen können, um weniger Depressionen zu haben. Diese durchaus ernst zu nehmende Krankheit, scheint inzwischen ebenfalls ein Trend zu sein. „Ich habe Depressionen“, ist beim Kennenlernen neuer Mitmenschen inzwischen fast zur Grußformel geworden, hatte Mila den Eindruck und freilich will man dazugehören, weshalb wie jeher alles boomt. Auch die Depressionen.
Dahinter steckt meist die innere Leere, weil man alles im Überfluss hat und Bedürfnisse, die man noch gar nicht kannte, befriedigt wurden. Von der Reizüberflutung und dem permanenten Glotzen auf das Handy ganz abgesehen. Und da es für jede Auswirkung eine Ursache braucht, also einen Schuldigen, gibt es ein neues „Extrem“. Schwere Kindheit, nennt sich das, wenn Kinder nicht jeden Wunsch erfüllt bekamen und nicht jede Erlaubnis für jede Unart erhielten. Wobei es schon extrem gefährlich war, von Unart zu sprechen. Alles nicht Normale wird als unnormal betrachtet. Auch ein Extrem. Diese extreme Überflutung hat zudem eine weitere Folge. Man denkt weniger, so das Ergebnis der Pisa-Studie Jahr für Jahr.
Manchmal machen diese „extremen“ Negativschlagzeilen ganz mürbe. Mila war nun gedanklich wieder an dieselbe Stelle gekommen.
Seit über einer Stunde beobachtete Mila nun die kleine Amsel, die hilflos und doch voll Vertrauen in die Welt auf ihre Eltern wartete. Sie kamen jedoch nicht. Mila stand auf, holte ein paar Rosinen und legte sie der kleinen Amsel vor die Füße. Ein wenig scheu blickte sich das Amselbaby um, pickte dann die Rosine.
Mila überlegte, was den Amsel-Eltern passiert war? Waren sie von einem Raubvogel gefressen worden oder bei dem Versuch Insekten für den Nachwuchs zu finden gegen die Windschutzscheibe eines Autos geflogen? Jedenfalls schien das Amselbaby elternlos zu sein. Wie wirkt sich diese schwere Kindheit auf den Vogel aus, überlegte Mila. Würde es nun auch extreme Auffälligkeiten entwickeln? Mila schüttelte lachend den Kopf. Nein. Solche Überlegungen traf der Vogel nicht. Er konnte nicht denken.
Unbeholfen hüpfte die kleine Amsel tollpatschig einer Fliege hinterher. Sie wird keine innere Leere entwickeln, sie schrieb niemanden etwas vor, machte einfach, was notwendig war, und das mit Vertrauen, dachte Mila. Auch wenn Mila nicht mit einem Alpaka meditierte, so wusste sie spätestens jetzt, Natur konnte heilen. Manchmal sollte man nicht denken, sondern die Tiere in der Natur beobachten. Manchmal hilft es ein bisschen „Waise“ zu sein, um weiser zu werden.
Copyright Foto und Text: Frankengedanken / Petra Malbrich
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