DIE FLUCHT Teil 7:

Ein Gastbeitrag von meiner lieben Freundin und Autorin Margrit Vollertsen-Diewerge. Sie hat das Tagebuch einer Bekannten geschenkt bekommen, die darin ihre Erlebnisse auf der Flucht im zweiten Weltkrieg als Zehnjährige festgehalten hat.

Hier nun Teil 7:

Als die Dänen nämlich von der deutschen Niederlage erfuhren, ließen sie ihren Rachegefühlen freien Lauf. Hinter jedem Fenster und jeder Mauer lauerten Gefahren, Kämpfe entspannten sich, Häuser wurden in Brand gesteckt und Bekleidungsspeicher der deutschen Wehrmacht geplündert. Hinzu kamen Tausende von Flüchtlingen, die dem Verenden preisgegeben waren. Das waren die Folgen der Kapitulation in der dänischen Hauptstadt. Vier schlimme Tage verbrachten wir in dem Zug, als plötzlich eine Freudenbotschaft die Runde machte. Das Schiff HESTIA begibt sich in drei Stunden auf die Rückfahrt nach Kiel! Wer mit will, soll sich eilends an Bord begeben. Wie ein Sonnenstrahl die Pflanzen belebt, so belebte uns diese Aussicht. Jeder raffte seine wenigen Sachen zusammen, und dann bestiegen Tausende die HESTIA. Hier empfing uns derselbe Dreck und Raummangel wie auf der UBENA. Die drei Stunden flogen schnell vorüber, aber das Schiff
rührte sich nicht. Die Stunden wurden zu Tagen, daraus wurde schließlich eine Woche. Wieder zerrann eine Hoffnung. Am 17. Mai hieß es dann, alle Flüchtlinge müssen die HESTIA verlassen, ein Zug bringt sie in ein Lager. Wieder ergriffen wir unser Bündel und zogen zum Bahnhof, wo wir noch einen ganzen Nachmittag verbrachten. Erst am Abend dampfte die Maschine heran, die uns aus Kopenhagen fuhr. Wohin, das blieb uns verborgen. Allein das Wort „Lager“ versprach nichts Gutes. Aber hatten wir eine Wahl?

In Dänemark: Das Lager Hövelte war ehemals vom deutschen Militär erbaut und bis zur Kapitulation besetzt. Auch jetzt füllten noch viele Verwundete zwei Lazarette. Sie waren aber durch Stacheldraht von uns abgeschlossen. Die Unterkünfte der Flüchtlinge waren unmenschlich. Die Reitställe, in denen noch der Dung den Boden bedeckte, die Reithallen und die Turnhallen wurden bewohnt. Wir teilten unser Los mit sechshundert Menschen in einer Turnhalle. Betten gab es nicht, dafür lagen Berge von Stroh auf der Erde, in denen sich die Familien mit ihren Gepäckstücken ein Plätzchen abgeteilt hatten.Wir und unsere Nachbarn von Lethenen hatten glücklicherweise ein ruhiges Fleckchen gefunden, das früher als Ankleideraum gedient hatte und sich dicht an dem Waschraum befand. Der Raum war sehr klein, so dass wir auf den Bänken und unter ihnen schlafen mussten. Wir hatten nicht einmal Stroh als Unterlage, sondern nur die zwei Wolldecken, die wir bis hier mitgebracht hatten. Zum Zudecken benutzten wir unsere Mäntel, die schon ziemlich mitgenommen aussahen. Nach den sieben Wochen in Hövelte waren wir total wund gelegen. Doch von einer Plage waren wir befreit, nämlich von den Läusen. Aber viele Flüchtlinge waren so nachlässig und unsauber, dass sie das Ungeziefer nicht los wurden. Besonders traurig und bedauernswert war die Lage der Alten und Kranken.

Ein Beispiel dafür ist folgendes: Eine alte Frau wurde zum Baden in den Waschraum getragen, weil sie Typhus hatte und ins Krankenhaus sollte. In ihren Achselhöhlen und hinter den Ohren hatten sich die Läuse so fest gesogen, dass das Blut hervorquoll. Sie hatte in einer Halle gelegen, wo sich niemand um sie kümmerte, bis ein Sanitäter auf seinem Rundgang auf ihr Elend aufmerksam wurde. Wegen der mangelhaften und schlechten Ernährung erkrankte die Hälfte der sechstausend Lagerinsassen, der größte Teil an Typhus. Manchmal erreichte die Zahl der Sterbenden vierzig am Tag. Die Kranken konnten aber wegen Überfüllung nicht alle im Hospital aufgenommen werden. Sie lagen dann teilnahmslos und bis zum Skelett abgemagert auf Stroh oder auf der bloßen Erde, bis der Tod sie von den Qualen erlöste. Viele Mütter verloren zwei oder gar drei Kinder. Und umgekehrt, vielen Kindern wurde die Mutter entrissen, so dass sie völlig hilflos waren. Wie ein Wunder erscheint es mir, dass meine Mutti und wir Kinder ohne eine Verwundung oder eine Krankheit davon kamen und die Flucht und die Internierung überstanden haben. Oft genug hing unser Leben am seidenen Faden. Wir müssen Gott ewig danken, dass er uns gesund und unverletzt nach so vielen Jahren das Vaterland wiedersehen ließ.

Immer noch denken wir an das Essen zurück, das wir in Hövelte bekamen. Dreimal in der Woche gab es einen halben Liter Suppe von Wasser und Schrotmehl, zweimal Wasser und Grütze und einmal Dörrgemüse. Am Sonntag bestand das Essen aus fünf kleinen Pellkartoffeln, die oft auch verfault waren, und einer Art Soße. Keine Speise war gesalzen. Salz war darum ein sehr begehrter Artikel. Wer noch welches hatte, konnte für einen Teelöffel davon Schuhe, Kleider, Wolle oder sonstiges eintauschen. Die Suppen waren so widerlich, dass vielen Leuten davon schlecht wurde.

In der ersten Zeit erhielten zehn Personen ein kleines Schwarzbrot und zwölf ein Weißbrot, später dann bekamen acht Personen ein Schwarzbrot und zehn ein Weißbrot. Dazu gab es zwanzig Gramm Butter und eben so viel Wurst. Kinder bis 15 Jahren bekamen noch einen viertel Liter Vollmilch. Dieses war die Tagesration. Es zeigte sich aber, dass diese Verpflegung nicht ausreichte, denn wir wurden täglich elender. Um die gesunden Kinder rechtzeitig vor der fürchterlichen Typhuskrankheit zu schützen, ergriff die Lagerleitung allerlei Maßnahmen. So wurden unter Leitung junger Frauen Kindergärten eingerichtet, um die Kleinen aus den dumpfen, ungesunden Quartieren heraus zu holen. Die Lehrer und Lehrerinnen mussten die größeren Kinder im Freien unterrichten, nur mündlich, da keine Bleistifte und kein Papier zu haben war. Um der Krankheit noch weiter vorzubeugen, erhielten die Flüchtlinge fast jede Woche eine Impfung. Wer das Lager betrat, glaubte nicht, dass es dort so viel Elend gab. Jedes Gebäude wurde von Rosenhecken und Büschen umrahmt, die ebenso wie die Straßen und der Sportplatz immer sauber und gepflegt waren. Aber umso trauriger war das Los der Lagerinsassen. Es litt nicht nur der Körper, sondern auch die Seele. Die Erwachsenen hatten gar nichts, was ihren Lebenswillen stärkte. Sie hockten auf ihrem Strohlager, grübelnd und geistig abwesend. Andere standen am Stacheldraht und schauten sehnsüchtig den Wolken nach und waren in Gedanken in der alten Heimat. Alles war trostlos. So verstrichen fast zwei Monate, bis es plötzlich hieß, dass das Lager geräumt werden müsse, da die Engländer es besetzen wollten. Am 9. Juli verließen wir Hövelte, froh, aus diesen unerträglichen Verhältnissen heraus zu kommen.

Fortsetzung folgt.

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