DIE FLUCHT Teil 6

Ein Gastbeitrag von meiner Freundin Margrit Vollertsen-Diewerge, die das Tagebuch eines damals neunjährigen Mädchens auf der Flucht vererbt bekam.

Wir hatten Glück, in einem verfallenen Haus noch eine kleine niedrige Stube zu finden. Doch war sie viel zu eng für dreißig Personen. Die einzige Einrichtung in dem Raum bestand aus einem Bett, in dem nachts sechs Kinder
sich quer hinlegen mussten. Die heraushängenden Beine begannen zu schmerzen und ließen uns nicht schlafen. Der Platzmangel war so groß, dass einige Leute unter dem Bett schlafen mussten. Wie sehnten wir uns
nach einem Federbett und Schlaf, ohne vollständig angekleidet zu sein.
Wie lästig Kleider sind, wenn man sie zehn Tage und Nächte ununterbrochen angehabt und mit ihnen auf der Erde geschlafen hat, versteht nur einer, der es selbst einmal miterleben musste. Für die Verpflegung sorgte auch hier das Militär. Aber es war schwer, etwas zu ergattern, da zu viele gesättigt werden mussten. Oft geschah es, dass viele
doppelte Rationen in Empfang nahmen, obwohl es bei Todesstrafe verboten war. Jeder versuchte, sich so gut wie möglich über Wasser zu halten, auch wenn er damit seine Mitmenschen schädigte. Mutti konnte nicht von meinen
jüngeren Geschwistern fort, darum mussten meine ältere Schwester und ich das Essen holen. Die Verteilerstelle befand sich in einem Hotel dicht am Hafen, der am Tage ständig von Flugzeugen angegriffen wurde.


Einmal war ich Zeuge, als ein Schiff getroffen wurde. Die wenigen Matrosen, die geborgen werden konnten, trugen alle schwere Verletzungen davon. Der Aufenthalt auf Hela glich einer Hölle. Am Tage mussten wir damit rechnen,
dass die Bomben und Granaten unserem Leben ein Ende machten, in der Nacht zitterten wir vor den Kanonen der U-Boote, die die Halbinsel erobern sollten. Aber die Deutschen konnten jeden Angriff erfolgreich abwehren.


Dies schreckte den Feind keineswegs ab. Er wusste, dass sich auch Hela ergeben würde, da er schon ganz Ostpreußen besetzt hatte und ungehindert vorrücken konnte. Die deutschen Soldaten wussten auch, dass sie ihr Leben
umsonst lassen mussten, aber sie wollten dem Vaterland die Treue halten. Wer es wagte, sich unter die Flüchtlinge zu mischen, musste das mit seinem Leben bezahlen. In einem Dorf hing ein junger Soldat an einem Baum mit
einem Schild auf der Brust, auf dem das Wort „Fahnenflüchtig“ stand.
Der 29. April war ein trüber, nebliger Tag und darum gut geeignet, dass die Schiffe den Hafen verlassen konnten. Wir hatten Glück, nach stundenlangem Anstehen endlich auf eine Fähre zu gelangen, die uns zum Dampfer „UBENA“
brachte. Ich hatte noch nie ein so hohes Schiff bestiegen, und aus Angst wurde mir ganz schwindelig. Aber ich schaffte es ganz gut.

Nachdem alle nötigen Vorbereitungen getroffen waren, lief die UBENA in Begleitung zweier Dampfer und Minenräumboote aus. Der Gedanke, dass wir endlich gerettet waren, machte uns sehr froh. Aber wir hatten uns zu früh
gefreut. Um Mitternacht erfüllte ein Dröhnen und Zittern das Schiff und brachte uns fast um den Verstand. Alle Passagiere stürmten auf das Deck, denn wir dachten, die UBENA wäre getroffen. Mir schwirrten die schrecklichsten
Gedanken durch den Kopf. Wir mussten doch alle ertrinken!

Unerträglich waren die Minuten, bis uns die Matrosen endlich mitteilten, dass die UBENA unbeschädigt war, aber ein anderes Schiff von U-Booten angegriffen worden sei und nun mit allen Menschen ertrank, ohne dass
Rettungsversuche ausgeführt werden konnten. Wir spähten in die Nacht hinaus, konnten aber wegen der dichten Nebelschwaden nichts erkennen.
Auch der zweite Dampfer wurde leck, und der Kapitän sah sich genötigt, die Insel Rügen anzulaufen.
Am 1. Mai fuhr dann die UBENA allein in den Hafen von Kopenhagen ein. Ach, wie viel Neues gab es hier zu sehen! Stundenlang stand ich an der Reling und schaute hinüber zu den schönen stolzen Schiffen. Vor der UBENA war
die MONTE ROSA verankert, die meine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Am Ufer standen viele Soldaten und Flüchtlinge, die auf der UBENA Angehörige vermuteten und neugierig zu uns herauf sahen. Bei einigen erfüllte
sich tatsächlich ihr Wunsch und sie konnten Verwandte oder Bekannte in die Arme schließen.


Das Gefühl, das uns in der Zeit gefangen hielt, war ein seltsam trauriges. Was würde uns die Zukunft bringen? Wohin würde man uns bringen? Wir hatten gehofft, dass man uns von Pillau nach Westdeutschland bringen würde. Als
wir nun in einem fremden Land waren, war unsere Enttäuschung groß. Bisher waren wir glücklich durch alle Strapazen gekommen, doch nun standen wir vor einem Rätsel. Die Besatzung der UBENA wollte uns gleich am Tage nach
der Ankunft ausladen, aber sie stieß auf Widerstand, da die Dänen keine Schulen und andere öffentliche Gebäude freigaben. So fristeten wir noch eine ganze Woche in einer abscheulichen Umgebung unser Dasein.
Die Passagiere der UBENA waren siebentausend Flüchtlinge und ebenso viele verwundete Soldaten. Die Kabinen, die sonst nur von zwölf Personen bewohnt wurden, beherbergten jetzt bis zu vierzig Menschen. Auf dem Schiffsdeck, auf
den Treppen und Korridore hausten auch Leute. Müde, abgespannt und verhungernd, viele nur noch Haut und Knochen, lagen sie da.

Dazu waren noch viele so zerlumpt, dass man sie kaum noch als Deutsche erkennen konnte. Es war ein jammervolles und anklagendes Bild, das ich nicht beschreiben will. Ein sehr herzergreifendes Beispiel dieses Elends wird mich sehr verfolgen, darum will ich es hier beschreiben.
Ein ganz altes alleinstehendes Mütterchen hatte nur einen zerfetzten Soldatenmantel und ein schmutziges Hemd an. In diesen Lumpen und in dem schneeweißen zerzausten Haar brütete eine Unmenge Läuse. Zusätzlich litt sie auch noch unter Typhus. Unruhig schwankte die Alte auf den Gängen hin und her, aber niemand nahm sich ihrer an. Die Matrosen machten sogar noch derbe Witze über ihre unverschuldete hilflose Lage. Sie hätten besser daran getan, wenn sie der alten Frau wenigstens Kleider und ein Bett gegeben hätten. Aber ihnen saß der Tod noch nicht an der Kehle.
Auch wir machten auf der UBENA die erste Bekanntschaft mit den Läusen. Es war unmöglich, ihnen zu entgehen, da die Kojen von ihnen voll waren und sie an den Wänden und auf dem Fußboden spazieren gingen. Bei den hilflos daliegenden Verwundeten krochen sie in die Wunden und verschlimmerten deren Zustand so sehr, dass viele Soldaten starben, bei denen sonst noch eine Rettung möglich gewesen wäre. Neben dieser unmenschlichen Plage herrschte noch die Hungersnot. Die Verpflegung, die man in Hela an Bord genommen hatte, war nur für drei Tage bemessen, und als nun diese Zeit überschritten wurde, trat die unvermeidliche Not ein. Eine Tagesration bestand aus einer Stulle Brot, einem Teelöffel voll Honig und einem viertel Liter Wassersuppe. Bei dieser Verpflegung konnten die ohnehin schon abgezehrten Menschen nicht überleben. Viele erlagen der Typhuskrankheit, die wie eine Seuche wütete.
Womit hatten wir diese furchtbaren Leiden verdient? Da traf uns auch schon die Nachricht von der bedingungslosen Kapitulation. Niederschmetternd und hoffnungsraubehd schlug sie wie eine Bombe ein. Die Schiffe wurden sofort
von den Siegermächten beschlagnahmt, und wir kamen von der UBENA, die nach einigen Tagen auf ihrer Überlieferungsfahrt von der Mannschaft versenkt wurde, in einen Zug auf dem Kopenhagener Bahnhof. Die Lage verschlechterte sich für uns erheblich. Weder die Dänen noch das deutsche Militär nahmen sich unser ernstlich an. Das Militär musste zum größten Teil in englische Gefangenschaft. Der Rest lebte noch auf Schiffen und in den Kasernen. In der Stadt durften sie sich nicht blicken lassen, das mussten sie oft mit dem Leben bezahlen….

Fortsetztung folgt

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