
Meine Freundin, die Journalistin Margrit Vollertsen Diewerge, hat Aufzeichnungen vererbt bekommen, in denen ein Kind seine Kriegserlebnisse im zweiten WK und die Flucht der Familie aus der Heimat aufgeschrieben hat.
Die Erlebnisse werden immer erschüttender. Für viele von uns unvorstellbar, welche Leid, welche Not und Qualen erduldet werden mussten. Vor allem die Kinder spürten nur eins: Angst.
Hier nun die Fortsetzung, der Gastbeitrag von Margrit Vollertsen-Diewerge.
Die Flucht – Teil 2:
Das Backen ging nur mit Wasser, aber die Wasserleitung war kaputt und ein Brunnen nicht vorhanden. So wurde der Schnee geschmolzen und mit dem Schmelzwasser gebacken und gekocht.
Flüchtlingstrecks strömten ununterbrochen von Ost nach West und wir erfuhren, dass die Russen ungeheuer schnell vorrückten. Aber wer ahnte, dass sie schon einige Kilometer vor unserem Ort waren! Wir wußten es jedenfalls nicht. Zwar verließen viele Soldaten und Zivilisten das Dorf, aber ohne jede Erklärung. Eines Morgens stürzte eine Nachbarin zu uns herein und rief: „Die Russen sind hier!“ Ich lief ans Fenster und sah auch schon drei Russen, die mit
aufgepflanztem Gewehr auf unser Haus zu kamen. Panzer, Autos und Geschütze fuhren auf den Hof, ihnen entstiegen Soldaten, aber sie kamen nicht so schnell in unsere Wohnung, so dass wir uns verstecken konnten. Unsere Mutter war nicht da, sie holte Schnee, aber kehrte zu unserer großen Freude bald zurück. Wir saßen ängstlich auf der Bettkante, was würden diese Feinde mit uns tun? Nach dem, was man von ihnen erzählte, blühte uns ja Schlimmes.
Tränen flossen, wir falteten die Hände, als mit viel Gepolter mehrere Russen herein kamen. Sie waren fast alle jung, aber sehr häßlich. Ihre Köpfe bedeckte rotes oder blondes Haar, aus ihren Augen sprühte Schadenfreude. Sie gingen auf die Erwachsenen zu, hielten ihnen die Pistole vor die Brust und verlangten Armband- und Taschenuhren. Mutti hatte schon erfahren, was sie am häufigsten begehrten und hatte die Uhren in ihre Jacke eingenäht. Den Wecker, den sie ihm reichte, verschmähte er. Dann erklärten sie uns, wir müssten uns in dem gegenüber liegenden Stall
versammeln. Mitnehmen durften wir nichts. Zu beiden Seiten des Korridors reihte sich Soldat an Soldat, die jeden genau musterten. Ich wagte nicht, vom Boden hoch zu schauen. Von der Menschenmenge, die im Stall zusammen getrieben war, mussten die Ausländer heraustreten. Sie wurden stürmisch und mit lautem Wortschwall begrüßt. Als wir Deutsche dies hörten und den wilden Blicken begegneten, die sie zu uns herüber warfen, erfasste uns namenlose Angst. Die einen meinten, jetzt würden sie das Gebäude sprengen, die anderen meinten, man würde uns wie Getreide herunter mähen. Aber nichts davon geschah.
Nachdem zwei schreckliche Stunden vorbei waren, durften wir wieder zurück in unsere Stube. Wie hatten sie aber da gehaust! Alle Koffer waren geöffnet. Soldatenbilder und Wertsachen verschwunden, Schränke und Strohsäcke durchwühlt und alles lag auf dem Fußboden. Von dem Brot hatten sie uns nur noch einen kleinen Rest gelassen und sie kamen und gingen, einer betrat das Zimmer mit dem deutschen Gruß. Ahnungslos wollte meine Schwester den
Arm heben, aber Mutti konnte sie noch daran hindern. In gebrochenem Deutsch sagte er: „Nun alle Heil Moskau“! Dabei ballte er die Faust und mit Flüchen auf uns Deutsche verschwand er.
In ständiger Angst mussten die jungen Mädchen leben, da die russischen Soldaten nach ihnen suchten und sie belästigten. Aber ein Offizier, der, wie er uns erzählte, als Kind mit seinem Vater von Deutschland nach Rußland
ausgewandert war, beschützte die Verfolgten vor den Übergriffen seiner Untergebenen. Ihm haben wir es auch zu verdanken, dass niemand gequält wurde. Er konnte allerdings nicht verhindern, dass den Männern Stiefel,
Jacken und Mäntel ausgezogen wurden. Der halbe Tag war vorüber, als die Männer aus unserem Dorf endlich die
Erlaubnis zur Weiterfahrt erhielten. Wie atmeten wir auf, als wir endlich den Wagen besteigen konnten in der Hoffnung, bald auf deutsche Truppen zu stoßen.
Aber wie waren wir enttäuscht, als auf jeder Straße, in die wir einbogen, nur Feinde marschierten und jeder Ort, in den wir kamen, von ihnen besetzt war. Alle hundert Meter hielten sie uns an und durchsuchten das Gepäck. Es war schon stockfinster, als ein Russe uns befahl, auf einem Gut Halt zu machen. Die Pferde wurden gefüttert, aber was sollten wir essen? Unsere Nachbarin hatte Mitleid und teilte mit uns ihr letztes Brot. Diesmal waren wir noch satt geworden, aber wie würde es die nächsten Tage werden?
Die Besitzer waren nicht mehr auf dem Gut, und so wurden wir in einem Saal zusammengedrängt. Andauernd erschienen Russen und fragten die jungen Mädchen nach ihrem Alter. Diese flochten sich schnell Zöpfe und zogen
die Mütze tief ins Gesicht, so konnten sie es wagen, sich für zwölf oder dreizehn auszugeben. Petroleumlampen spendeten uns etwas Licht, und wenn auch diese fortgeholt wurden, saßen wir im Dunkeln. Wie erschraken
wir jedesmal, wenn die Tür sich öffnete und das Suchen von neuem begann. Plötzlich betrat ein Betrunkener das Zimmer. Auf einem Tisch packte er seine Patronen aus und lud sein Gewehr. Wir dachten nichts anderes als dass er uns alle erschießen würde. Der Gedanke an den Tod hatte schon die ganze Flucht über Besitz von uns ergriffen, aber war noch nie so stark wie in diesem Augenblick. Er setzte an, es krachte, ein markerschütternder Schrei erfüllte
den Raum. Dann war Totenstille. Wohin hatte er geschossen?
Wir beruhigten uns, als wir sahen, dass er nur in die Decke geschossen hatte. Aber ihm war nicht zu trauen, denn zu grimmig flogen seine Blicke zu uns herüber. Bis Mitternacht trieb er sein Vergnügen, dann wurde er von einem
Kameraden aus dem Zimmer geholt. Es entstand auch eine Prügelei, aber der Betrunkene zog den Kürzeren. Der Vernünftige wandte sich an uns, und als er uns Kinder weinen sah, sagte er: „Deutsche Kind nicht Schuld dieser Krieg, jetzt du schlafen.“
Vor lauter Aufregung schliefen wir tatsächlich ein. Am Morgen, es dämmerte noch, stürzte ein Jüngling von draußen herein und rief freudestrahlend: „Die Deutschen sind hier!“ Ein Russe steckte den Kopf durch die Tür, hörte die
Botschaft und verschwand. Wie leicht und froh wurde unser Herz, und wie jubelnd begrüßten wir unsere Retter! Sie durchsuchten sofort das Gebäude, während wir uns in einen Stall begeben mussten, fanden aber nur den
betrunkenen Russen, die anderen hatten die Gefahr erkannt und das Weite gesucht. Drei ruhige Stunden verlebten wir jetzt.
Da erzitterte plötzlich das Haus, Fensterscheiben klirrten und Schreie hallten durch die Räume. Hier stürzte ein junges Mädchen nieder, den Körper von Splittern durchbohrt. Dort wurde einem Mann der Unterkiefer durchschossen.
Es ist nicht zu beschreiben, wie die Menschen hinfielen, ihre Verwandten neben ihnen knieten und jammerten. Es war herzzerreißend. Ein Einschlag der Granaten nach dem anderen. Alles rannte auf den Korridor hinaus und auf den
Keller zu. Die Angst raubte den Menschen den Verstand.
FORTSETZUNG FOLGT