
Vier mal täglich lief Pia an den vielen Warnschildern vorbei. „Achtung giftig“, „Vermeiden Sie Augenkontakt“, „Reizend“ – wechselten sich an den Wänden entlang der „Waschstraße“ ab. Es war das dritte Mal heute, jetzt, kurz nach der Pause, dass sie den Weg entlang ging, um wieder in ihren Hochsicherheitstrakt zu gelangen. Pia musste schmunzeln. So wurde der hochklimatisierte Raum von den Mitarbeitern genannt, um sich wichtiger zu fühlen. Warum auch immer die Menschen vergleichen mussten, war Pia ein Rätsel. Sie fand faszinierend, dass jeder Arbeitsschritt wichtig war, denn nur so konnte das fertige Teil entstehen und dann verpackt werden.
In der Fabrik hier wurden Teile für Flugzeuge hergestellt. Wenn diese Teile nicht rund liefen, konnte das durchaus negative Konsequenzen haben. Das erzählten ihr die vier anderen Mitarbeiterinnen in dem Hochsicherheitstrakt. Pia schmunzelte. Wenn Studentinnen wie sie hier arbeiten durften, die sich wenig mit der Materie auskannten, konnten die Folgen nicht so gefährlich sein. Die zu untersuchenden Teile wurden ihnen, frisch in der giftigen Flüssigkeit gewaschen, vor die Tür gestellt.
Im Hochsicherheitstrakt arbeiteten sie an den Mikroskopen, um jede kleinste Unebenheit zu finden. Hier durfte kein Stäubchen wehen und es musste für eine immer gleiche kühle Temperatur gesorgt werden, weshalb die Klimaanlage rund um die Uhr lief. Die einzig nervige Prozedur war, sich jedes Mal vor dem Betreten des Raums in einen sterilen Schutzanzug zu werfen, einschließlich Kopfbedeckung, Handschuhen und einen Schutzanzug über die Schuhe. Eigentlich sollten sich die Arbeiter nach der Mittagspause viel zu erzählen haben. Doch es dauerte immer eine Viertelstunde, bevor ein Gespräch aufkam. Immer begann Elfriede zu reden.
„Gestern war ein interessanter Bericht über Mobbing im Fernsehen. Schlimm, wie manche Mitmenschen mit den anderen umgehen. Mein Neffe – er kümmert sich doch so rührend um mich – hat das selbst schon erlebt. Bei ihm im Betrieb sind viele Kollegen so neidisch auf andere, dass sie sich richtige Gemeinheiten ausdenken, um den anderen zu schaden.“ Elfriede sah kurz von ihrem Mikroskop auf und blickte in die Runde. Wie üblich kam keine Reaktion. Alle starrten auf ihre Teile und suchten Fehler. Die Frauen arbeiteten still weiter. Nach ein paar Minuten gähnte Marietta. „Gestern ist es wieder spät geworden. Das Publikum wollte Holger Bertram nicht gehen lassen.“
Pia hielt inne. Diese Geschichte hatte sie in den fünf Wochen noch nicht gehört. Was hatte der erfolgreiche Schlagerstar Holger Bertram mit Marietta zu tun? Pia hatte das wohl laut gesagt, denn als hätte Marietta darauf gewartet, ließ sie die Arbeiten ruhen, lehnte sich zurück und begann zu fantasieren. „Ich bin Holgers große Liebe. Wir sind schon lange ein Paar. Aber niemand weiß von mir. Das darf auch niemand erfahren“, sagte Marietta und schloss träumend die Augen. „Gestern war es sehr anstrengend für ihn. Auch seine Tochter Vanessa sagte, er müsse nun kürzertreten.“ Pia lächelte und schaute sich vorsichtig um, ob in dem Hochsicherheitstrakt irgendwo eine Kamera versteckt war.
„Das glaubst du mir nicht? Das ist so. Das ist Liebe. Ich kenne seine Frau. Ich kenne seine Kinder. Wir verstehen uns. Ich bin oft zu Hause und warte, bis er mich anruft. Manchmal geschieht das Monate nicht. Aber er ist ein Künstler. Das ist eben so“, erklärte Marietta.
Beinahe hätte Pia laut losgeprustet. Holger Bertrams Liebe. Marietta. Eine Fabrikarbeiterin, die zu Hause wartete, dass er sie anrief. Pia hatte Mitleid mit der älteren Kollegin, die so sehr in ihrer schwärmerischen Pubertätsphase steckengeblieben war.
„Du kannst mich alles fragen. Ich kann dir seine Schuhgröße nennen, sein Lieblingsessen und nein, es ist nicht so, dass ihn seine Frau kulinarisch verwöhnt. Holger kocht selbst. Das ist seine große Leidenschaft. Es sind Lügen, die in den Zeitschriften stehen.“ Pia wurde wieder ernst. Sie nickte, um Marietta zu signalisieren, dass sie ihr glaube.
„Du verstehst das nicht. Was weißt du von Liebe. Liebe ist, wenn man ihn so leben lässt, wie er es braucht. Er braucht seine Frau und Kinder, seine Musik und Fans“, erzählte Marietta.
„Und dich“, fügte Pia vorlaut hinzu.
Marietta nickte.
„Was machst du denn ab nächster Woche, wenn er wieder drei Monate auf Tournee ist? Dann siehst ihm wieder vom Sofa aus zu“, stichelte Elfriede.
„Natürlich. Am Ende jedes Auftritts hält er dann einen roten Rosenstrauß in die Kamera. Der ist für mich. Das ist Liebe“, sagte Marietta.
Elfriede lachte los.
„Das ist Dummheit. Du hast doch einen Dachschaden. Lass uns doch endlich in Ruhe mit deinen Aschenputtel Märchen“, sagte Elfriede.
Marietta kniff die Augen zusammen. Dann warf sie Pia und Elfriede noch einen bösen Blick zu, bevor sie sich wieder über ihr Mikroskop beugte.
In der Zwischenzeit war Elfriede aufgestanden, werkelte an den fertig untersuchten Teilen herum, warf noch etwas in den Papierkorb und ging wieder zu ihren Platz.
„Schlimm, wenn man alt wird. Ich dachte gerade, den Auftrag falsch beschriftet zu haben. Aber es hat alles seine Ordnung“, sagte Elfriede.
Pia hatte bereits darauf gewartet. Elfriede lief jeden Tag zwei Stunden vor Feierabend zu den erledigten Aufträgen, um die Teile nochmal zu durchforsten. Um diese Uhrzeit kam der Chef, um Stichproben zu nehmen. In Wahrheit, wusste Pia, legte Elfriede Ausschussware in die Box ihrer Kollegin Ursula. Sie war eine kleine unscheinbare Frau. Sie hatte wenig zu lachen, sah sehr müde aus und beteiligte sich nur sehr selten an den Gesprächen.
Auch jetzt schaute die hagere Frau nicht auf, sondern holte eifrig ein Teil nach dem anderen aus der Plastikbox, um es auf Fehler zu untersuchen. Kurz darauf klingelte Ursulas Handy. Es klingelte täglich um diese Uhrzeit, denn da kamen Ursulas Sohn und Ehemann nach Hause. Jedes Mal hörte Pia wie einer der beiden Ursula anschrie und mit Schimpfwörtern bewarf. Mal passte das Essen nicht, das Ursula immer vorkochte, damit es die Männer nur aufwärmen mussten, mal meckerten sie, weil Ursula vergessen hatte, Getränke aus dem Keller zu holen und ein anderes Mal, wenn der Ton etwas freundlicher wurde, sollte Ursula nach Feierabend noch Besorgungen erledigen, damit die Herren einen gemütlichen Fernsehabend verbringen konnte, während Ursula Geschirr spülte oder Wäsche bügelte.
Auch nach diesem Anruf duckte sich die kleine Frau, machte sich noch kleiner als sie ohnehin schon war und steckte gerade das Handy in ihren Schutzanzug, bevor die Tür aufging und der Chef den Raum betrat. Wie immer ging er wortlos zu den fertigen Auftragskisten und nahm eine Handvoll heraus, setzte sich auf den leeren Platz und kontrollierte die Teile unter dem Mikroskop.
„Es war nicht anders zu erwarten. Ursula, Sie sollten sich überlegen, ob sie für die Arbeit hier noch tauglich sind. Ihre Fehler nehmen überhand. Diese Ware können wir nicht abgeben.“ Der Chef warf die geprüften Teile in den Mülleimer, registrierte Pia entsetzt. Mindestens drei Mal in der Woche passierte dieses Schauspiel. Pia konnte sich nicht vorstellen, dass die Frauen nicht bemerkten, dass Elfriede die Verursacherin war, um ihre Kollegin zu diffamieren.
„Ursula kann nichts dafür. Es war Elfriede“, sagte Pia.
Stille trat ein. Ursula beeilte sich „nein, nein“ zu sagen. Elfriede ließ alles liegen und stand auf, um sich größer zu machen.
„Genauso war das gestern in dem Bericht über Mobbing geschildert worden. Ich lasse mir von einer Studentin, nicht vorwerfen, solche Untaten zu begehen“, erboste sich Elfriede.
Auch Marietta hatte alles fallen lassen.
„Als ob Elfriede das nötig hätte“ schimpfte Marietta.
Ursula war inzwischen fast unter den Tisch gerutscht, so peinlich war ihr der Vorfall. Mehr noch, dass für sie Partei ergriffen wurde.
Der Chef stand wartend vor Pia.
„Möchten Sie Ihre Anschuldigungen wiederholen?“, fragte er.
Pia blickte von einer Kollegin zur anderen.
Auch Ursula saß wieder auf ihrem Stuhl und zog wie alle anderen die Handcreme aus der Tasche des Schutzanzugs. Wie auf Kommando cremten alle Frauen ihre Hände ein.
„Die Waschlösung greift die Hand an. Sie ist wirklich sehr giftig“, meinte Ursula leise.
Pia glaubte im falschen Film zu sein. Toxisch war in dem Hochsicherheitstrakt ganz sicher nicht die Waschlösung, sondern jede einzelne Frau.
Copyright Petra Malbrich