Stillstand

Als würden sie über eine innere Uhr verfügen, versammelten sich plötzlich alle Vögel auf den hohen Plätzen um den Kirchturm herum. Die Spatzen saßen in den Baumkronen, die Amseln begnügten sich mit den hinteren Reihen, die Krähen und Dohlen liefen am Gerüst auf und ab, immer wieder einen mahnenden Schrei ausstoßend, während die kleinen Blaumeisen, die Kohlmeisen und Rotkehlchen an den Ästen und Gerüstgeländern fast unsichtbar wirkten. Eine Amsel saß auf dem Turmdach in unserem Menschenland und begann einen Monolog.

„Auch ohne Glockenschlag ist es jetzt 20 Uhr. Mein Name ist Armin Amsel, ich begrüße Sie zu den Nachrichten. Guten Abend meine sehr verehrten Damen und Herren Vögel. Seit gestern ist nichts mehr wie es war. In ganz Deutschland werden die Türme renoviert und dazu wurden alle Uhren abgenommen. Die Zeit ist nicht mehr sichtbar. Für die Menschen scheint es eine bedrohliche Lage zu sein. Sie reden inzwischen überall von einem Stillstand. Wir schalten deshalb zu Egon Eichelhäher, unserem Korrespondenten, der sich in der Menschenwelt umgesehen hat. Herr Eichelhäher, wie ist denn die Lage auf den öffentlichen Plätzen seit gestern Abend? Können sich die Menschen nicht mehr bewegen? Können sie nicht mehr denken oder was ist mit dem Stillstand gemeint?

Sofort begannen die Spatzen aufgeregt zu piepen. Elsa Eichelhäher prüfte nochmal das Mikrofon, bevor sie sich räusperte.

„Nun, was die Menschen mit Stillstand meinen, wissen sie wohl selbst nicht. Sie bezeichnen den Stillstand als Anhalten des Fortschrittes. Doch wohin man auch schaut, ein Fortschritt war bislang nicht sichtbar. Weder die Menschen, noch ihre Einstellung hat sich verändert. Sie belügen sich noch immer selbst, sie denken noch immer zuerst an sich, sie sind noch immer bequem und handeln egoistisch und teils sehr zerstörerisch. Das einzige, was sich im Lauf der Jahre geändert hat, ist die Benennung eines Schuldigen an ihrem Zustand. Nur niemand will anfangen und bei sich zuerst Veränderungen bewirken. Das ist nicht besonders klug und zeigt auch hier, dass ein Fortschritt seit Jahrzehnten nie stattgefunden hat, sonst wäre die Lage nicht so brisant.“

„Warum wird deshalb die Lage für die Menschen immer brisanter?“

Elsa Eichelhäher räusperte sich erneut. „Weil die Menschen in Panik verfallen und noch nachlässiger werden. Stillstand ist für sie ein Synonym für gar nichts mehr tun. Nun muss man diese Entwicklung mit der menschlichen Logik zu Ende denken. Wenn für sie der von uns benannte Stillstand Fortschritt war, dann ist der wirkliche Stillstand nichts anderes als ein Rückschritt.“

„Und das wird dann für uns bedrohlich“, sagte Armin Amsel. „Wir schalten deshalb zu unserem Außenminister, dem General Richard Rabe. Herr Rabe, die Menschenwelt grenzt unmittelbar an unsere Welt. Warum könnte deren offizieller Stillstand für uns eine enorme Bedrohung darstellen?“

General Richard Rabe schaute ernst vom Kirchturm herab.

„Die Menschen werden dann noch unberechenbarer, weil sie noch unkritischer werden, höflich ausgedrückt. Sie sind dann zu allem in der Lage. Vor allem werden sich immer mehr Gruppierungen bilden. Die einen sind die Zerstörer. Sie sägen alles ab und mähen alles nieder. Flora und Fauna existieren dann nur noch sehr eingeschränkt. Vögel werden abgeschossen, Nisthöhlen zugekleistert oder mit Stacheldrähten verbaut. Die andere Gruppierung sind die Gelangweilten. Hier wird sich immer mehr Aggression und Zerstörungswut ausbreiten, die grundlos alle zu spüren bekommen, die ihnen in den Weg kommen. Bereits jetzt hat der Artenschwund bedrohliche Maße angenommen. Immer mehr Vögel verhungern, doch die unbelehrbaren Menschen verwenden immer noch dieselben Keulen, um alles Leben außer ihrer Spezies zu vernichten. Auch immer mehr Faule wird es geben, weil Stillstand für sie das Ende eines Wachstums bedeutet und wofür solle man sich dann noch anstrengen. Der rückschrittliche geistige Stillstand ist besonders ersichtlich, dass es die Menschen trotz Mahnungen immer noch nicht verstanden haben, dass die Zerstörung letztendlich ihr eigener Untergang ist. Die allergrößte Bedrohung allerdings ist, dass es bei uns Nachahmer geben könnte. “

„Wie können wir uns schützen?“, fragte Armin Amsel.

„Vor allem können wir weiterhin gutes Vorbild sein. Das beginnt bereits in der Lebenseinstellung. Während wir in der größten Hitze und Trockenheit versuchen, unsere Familien zu ernähren, sitzen die Menschen auf dem Liegestuhl mit der Begründung, erst wieder zu arbeiten, wenn es nicht zu heiß ist. Zugleich sind wir diesbezüglich auch Vorbild in der Kinderbetreuung. Es ist uns nicht zu anstrengend, sich um die Kinder zu kümmern. Die Menschen geben alles ab. Auch Probleme, die sie selbst geschaffen haben. Vor allem aber mischen sie sich überall ungebeten ein. Niemand wird hier erleben, dass Meisen den Staren hinterher fliegen, um ihnen zu sagen, wie sie besser leben sollen. Die menschliche Selbsttäuschung ist in vielen Gegenden sichtbar. Was nutzen Insektenhilfen, wenn es keine Nahrung gibt? Die Insekten werden sterben. Was nutzen Vogelhäuser, wenn es keine Insekten gibt? Gegen den Kahlschlag und Artenschwund können wir nichts ausrichten. Aber wir sollten zur Gegenwehr bereit sein, indem wir auf uns aufmerksam machen. Unsere Verteidigung ist einsatzbereit. Wir verrichten unser Geschäft auf des Menschen Haupt. Dann erkennen sie, dass ihr Ausspruch „haben sie dir ins Gehirn…“ der erste Fortschritt ist. Insofern kann Stillstand zum Fortschritt führen.“

„Vielen Dank für Ihre erste Einschätzung, Herr General Rabe. Zum Schluss noch eine gute Nachricht. Unsere stimmgewaltige Stella Star hat trotz bester Prognosen beim Eurovision Pfeif Contest im Menschenland wieder den letzten Platz belegt. Die demokratische Mehrheit hat deshalb beschlossen, nicht mehr teilzunehmen. Künftig pfeifen wir ihnen etwas. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend.“

Dann traten alle Vögel einen Generalstreik an. Es wurde unheimlich still, weil der Mensch mit und ohne Uhr nie weiß, wie spät es ist.

Foto und Text Copyright Petra Malbrich

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