DIE FLUCHT

Ein Gastbeitrag von meiner Freundin, der Journalistin Margrit Vollertsen Diewerge. Sie erbte die Aufzeichnungen dieser Kriegserlebnisse einer jungen Frau, die mit ihrer Mutter und Schwester fliehen musste. Es endete nach vielen Jahren in einem dänischen Internierungslager.

Teil 1: Hunger, Qualen und fehlende Nächstenliebe

Erinnerungen eines Kindes an den Krieg:

1944 rückte die Front immer näher. Ich war damals neun Jahre alt, wir Kinder sahen die kilometerlangen Trecks, die schwerfällig durch unser Dorf  zogen. Einige Flüchtlinge hatten eine Kuh oder ein Pferd gerettet. Der Strom der Flüchtlinge wuchs täglich an, und eines Tages ereilte auch uns das harte Schicksal.

Mein Vater hatte uns schon vor Weihnachten geschrieben, wir sollten mit dem nötigsten Gepäck zu unserer Tante nach Pommern reisen. Es war aber zu spät. Mit den Sonderzügen wurden nur die Ausgebombten aus Königsberg evakuiert, mit den anderen Zügen bestand keine Möglichkeit fort zu kommen. Wir mussten also warten, bis die Front an Labiau herangerückt war und alle Dorfbewohner flüchteten. Da ging es Hals über Kopf mit dem Packen. Was sollte man mitnehmen? In aller Eile wurden Koffer, Kisten und Säcke gefüllt, und wenn man sich umsah, blieb noch so viel, was man mitnehmen wollte.

Da wir keine eigenen Pferde und Wagen hatten, mussten wir mit einer Familie deren Gefährt teilen. Sie nahmen noch Möbel und Geräte mit, so dass nicht viel Platz für uns übrig blieb. Aber wir waren froh, wenigstens fortzukommen. Am 23. Januar 1945 standen die Wagen zur Abfahrt bereit. Aber wer wollte sich von der Heimat trennen? Wir hofften noch immer, die Russen würden zurück gedrängt werden, obwohl schon in der Ferne das Donnern und Grollen zu hören war. Noch einmal legten wir uns fertig angekleidet schlafen. Der Vormittag verging unter den größten Spannungen. Erst um 16 Uhr gab der Bürgermeister den Befehl zum Aufbruch. Meine Schwester war noch nicht zu Hause. Es war ein furchtbarer Gedanke, ohne sie zu flüchten. Weinend saß ich auf dem Wagen. Lieber wollte ich zurück bleiben, als ohne meine Schwester zu fahren. Aber alles Weinen half nichts, ich musste doch mit.

Langsam verließen wir unser Dorf, in das schon die zurückgedrängten Soldaten einzogen. Zum letzten Mal sahen wir zurück, was würde uns die Zukunft bringen? Meine Mutter und einige junge Leute fuhren mit einem Schlitten voraus, um meine Schwester vielleicht doch noch zu finden. Sie mussten einen Umweg machen, da die Straßen verstopft waren. Sie hatten Glück. An einem Feldweg trafen sie meine Schwester tatsächlich, eine Zentnerlast fiel von meiner Seele.

Nun war unser ganzes Dorf in einem Treck vereint bis auf eine sehr alte Frau, die sich nicht von ihrem Haus trennen konnte. Ein fürchterlicher Schneesturm wütete, die Hauptstraße zwischen Labiau und Königsberg war von Wagen und Autos überfüllt, deshalb mussten wir auf Nebenstraßen fahren. Ein hohes viereckiges Holzdach war auf dem Fuhrwerk gebaut und schützte uns vor Schnee und Wind.

Gleich in der ersten Nacht geschah ein Unglück. Ein schwer beladener Wagen kippte in einen Graben. Wir fuhren die ganze Nacht hindurch. Auch in diesem Dorf war man im Begriff, alles im Stich zu lassen. Da unser Bürgermeister und der Ortsvorsteher einsahen, dass es vielleicht doch zwecklos sein würde, diese Hetzjagd aufzunehmen, wollten sie nicht weiterfahren oder sogar umkehren. Doch ihr Vorhaben scheiterte am Widerstand der anderen Männer. Wieder ging es weiter in der eisigen Kälte. Fort, nur fort, gleich welche Widerstände zu überwinden waren, nur nicht den Russen in die Hände fallen! Tag und Nacht wurde gefahren und nur kurze Unterbrechungen eingelegt, um die Pferde zu füttern und für uns eine warme Suppe zu bereiten.

Doch wie schwer war das. Wo sollte man das Essen kochen? In vielen Häusern wurden wir abgewiesen, obwohl die Bewohner sahen, dass auch sie bald ihren eigenen Herd verlieren würden. Aber ihr Herz war hart und verschlossen. Andere Gebäude waren überfüllt von Flüchtlingen und vom Militär. Es ging nirgends geregelt zu. Jeder versuchte, so schnell wie möglich Ostpreußen zu verlassen. Die Straßen wurden zu schmal, Autos und Wagen lagen in den Gräben. Auf den Wiesen und Feldern waren Panzer und Geschütze aufgefahren. Auf den Wegen marschierten Kolonnen von Soldaten und verdrängten die Zivilisten, die den Verkehr hemmten. Nächstenliebe war nicht zu spüren, nur „wie komme ich schnell genug in Sicherheit?“

Es war kein Wunder, wenn man seinen Wagen, den man vor fünf Minuten verlassen hatte, nicht wiederfand. Nun waren wir schon zehn Tage auf der Flucht. Keine Nacht richtiger Schlaf, selten warmes Essen, nur Brot, das zu Stein gefroren war. Das dauernde Sitzen hatte unsere Glieder steif gemacht.

Wann würde dies aufhören? Inzwischen war das Brot alle und wir waren gezwungen, hier welches zu backen. Das Mehl hatten wir noch von zu Hause mit. Unsere Unterkunft befand sich in einem großen Gebäude, das ehemals von Arbeitsmaiden bewohnt worden war. Hier lernten wir auch das Schlafen auf

Strohsäcken kennen. Vielen Leuten waren die Hände und Füße erfroren. Einen Arzt gab es nicht, und so mussten sie unerträgliche Qualen erdulden, da die Fäulnis nicht eingedämmt werden konnte.

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