
Wie ein Scherbenhaufen lag Julias Leben vor ihr. Alles, was sie sich mühsam erkämpft hatte, war zerstört. Das einzige, was blieb, waren die Ratschläge der Familie und Freunde. „Das wird schon wieder. Steh auf und geh einfach deinen Weg weiter“, sagten sie. Das sagte sich leicht dahin, wenn man nicht vor einem Trümmerhaufen saß. Julia grübelte.
Geh deinen Weg. Was war ihr Weg und war sie diesen jemals gegangen? Vorgestern hatte sie mehr oder weniger die Kündigung erhalten. Ihre Privatbank schloss Filialen und baute Personal ab. Julia, die eine Filiale im Norden Deutschlands leitete, war betroffen. Doch zum Bedauern der Firmenchefs war gerade auch kein anderer Platz in Julias Position frei und alle anderen Posten würden ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht gerecht werden. Sie wären überqualifiziert und würden sich langweilen, prophezeite ihr Chef. Zuerst war sie völlig am Boden zerstört, denn das Geld würde fehlen, gerade jetzt, wo sie sich eine Eigentumswohnung gekauft hatte. Diese Weltuntergangsstimmung wechselte dann in Niedergeschlagenheit.
Geh deinen Weg, hatte Julia von Kindesbeinen an in den Ohren. Ihr Weg schien zu sein, immer das Positive in einer Situation zu finden. Keine Arbeit mehr im Norden, würde bedeuten, wieder dauerhaft im Süden Deutschlands zu leben. Die Folge: Ihre Beziehung würde sich wieder bessern. Diese war durch die ausschließlichen Treffen am Wochenende, manchmal nicht einmal das, schwer auf den Prüfstand gestellt worden. Oft stritten sie und Rolf nur noch. Sogar von Trennung hatten sie gesprochen. So betrachtet, hat alles sein Gutes, dachte Julia und freute sich schon auf seine Mimik, wenn sie ihm mitteilen würde, nun wieder die ganze Woche mit ihm zu verbringen. Aber wollte sie das überhaupt noch? Die Distanz ließ Risse entstehen und aus der Distanz betrachtet, waren sie wohl doch zu verschieden.
„Julia, bist du noch dran?“, fragte Julias Mutter am Telefon. „Ja, natürlich oder hörst du es tuten?“, entgegnete Julia. Ihre Mutter atmete erleichtert auf. „Nun mach dir keine Sorgen. Dein Vater hat gute Beziehungen zu anderen Banken. Du findest bestimmt bald einen adäquaten Job. Bleib einfach ruhig und geh deinen Weg“, redete Julias Mutter weiter auf ihre Tochter ein. „Ich muss nun Schluss machen. Ich melde mich bei dir wieder“, meinte Julia und drückte die Leitung weg. Kurz darauf ging Julia raus an die frische Luft. Hier konnte sie aufatmen und nachdenken.
„Geh deinen Weg“, echote es unablässig in Julias Kopf. Was war ihr Weg? Sie wollte nie in einer Bank arbeiten, fiel Julia ein. Doch ihre Mutter meinte, sie solle ihren Weg gehen, anstatt sich von jugendlichen Launen mitreißen lassen. Ist das mein Weg, überlegte Julia, während sie durch die kleine Stadt mit ländlich idyllischem Charakter bummelte. Fast am Ortsausgang sah Julia ein leerstehendes Gebäude, das in dem großen Grundstück beinahe verloren wirkte. „Zu verkaufen“ informierte ein Schild an dem großen Fenster, gleich neben der Tür. Julia klingelte und zu ihrer Überraschung war der Eigentümer noch in dem Gebäude. Julia erkundigte sich nach dem Preis. Die Grundstückspreise waren ebenfalls eher auf dem ländlichen Niveau und da es nur ein kleines Haus war, konnte Julia das Gebäude recht günstig erwerben. Ohne lange zu überlegen unterzeichnete sie den Kaufvertrag. Alles Weitere würde notariell geregelt werden.
Julia strahlte vor Freude und zum ersten Mal seit Tagen ging es ihr wieder gut. Trotzdem ließ sie noch eine Stunde vergehen, bis sie ihre Mutter anrief. „Ich habe einen neuen Job“, rief Julia fröhlich. Auch ihre Mutter klang ganz aufgeregt. „Soeben habe ich ein kleines Haus mit einem riesengroßen Grundstück gekauft. Es braucht zwar einige Umbauarbeiten, aber dann habe ich mein eigenes Blumengeschäft mit Gärtnerei. Es passen mehrere Gewächshäuser auf das Grundstück. Dort werden die schönsten Gemüse wachsen und an das kleine Haus werde ich einen Laden anbauen, in dem es die schönsten Blumensträuße und Pflanzen zu kaufen gibt“, erzählte Julia. „Hast du denn eine Gärtnerin oder Floristin eingestellt? Wer soll diese Arbeit erledigen?“, fragte ihre Mutter. „Na ich natürlich“, meinte Julia. „Es war schon immer mein Wunsch“, erklärte Julia. „Ach Kind, du und deine Launen. Und was ist mit Rolf? Ich verstehe, du bist einfach niedergeschlagen. Aber glaub mir, du findest wieder etwas Angemessenes. Geh einfach deinen Weg“, munterte ihre Mutter auf. „Genau das tue ich. Zum ersten Mal in meinem Leben gehe ich meinen Weg. Vorher habe ich eure Wünsche und Ansprüche erfüllt. Das aber ist mein Weg. Denn mein Vorhaben ist das, was vom Herzen kommt.“