Schlafschaf

Blökend rannten die Schafe auf der Weide umher. Es klang wie Freudenschreie, nach den dunklen Tagen endlich wieder Sonne zu sehen und zu fühlen und das immer mehr gesättigte Grün wieder kauen zu dürfen. Elaine lächelte, als sie über ihre kleine Herde blickte und die Lebensfreude auf den Gesichtern ihrer wolligen Tiere sah. Eine Lebensfreude, die nun langsam auch Elaine wieder spürte, als sie gefolgt von ihren Schafen auf den Wiesen in Nähe des Bachs umherwanderte. Diese Schafherde zu hüten, war das einzige, was ihr blieb, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Elaines Großmutter hatte eine Schafzucht, um die sich seit Jahren ein Schäfer kümmerte. All die Jahre hatte sich Elaine über die Bezeichnung Schäfer belustigt. „Das klingt als wäre er das Oberschaf“, sagte Elaine bereits als Jugendliche. „Um ein guter Hirte zu werden, musst du zuerst ein Schaf sein“, antwortete damals ihre Großmutter. Ein Schaf sein? Elaine musste erst recht lachen. Sie würde kein Schaf sein und würde nie ein Schaf werden, das irgendjemanden brav hinterher trottete, um zum Schafott geführt zu werden. Nein. Elaine wollte klug und erfolgreich werden. Sie würde so leicht niemand ins Verderben führen.

Genau 10 Jahre später stand Elaine vor ihrer Großmutter und bat, die Schafherde hüten zu dürfen. Auch wenn Elaine anfangs abgeneigt war, mit den stinkenden Tieren zusammen zu sein und Ekel in ihr aufkam, wenn sie deren dreckverschmiertes Wollkleid sah, so blieb ihr nach ihrem persönlichen und beruflichen Abstieg nichts anderes übrig, als diese Aufgabe zu übernehmen. Elaine war bei einer großen Investment Bank angestellt und gehörte zu den großen Brokern. Sie hatte sich einen guten Ruf in der Branche erarbeitet, die eigentlich noch immer eine Männerdomäne war, obwohl Studien bestätigten, Frauen waren die besseren Broker. Wenn sie keine Schafe sind, dachte Elaine und beobachtete, wie friedlich die Schafe nebeneinander grasten und sogar Freundschaften bildeten. Schafe sind soziale Tiere. Sie kämpfen selten miteinander und trauern sogar, wenn eines ihrer Herdenmitglieder gestorben ist. Doch, Tiere hatten Gefühle, davon war Elaine nun restlos überzeugt. Es gab nicht nur den Instinkt, wie manche behaupteten. Bei ihr hatte der Instinkt nicht funktioniert, bedauerte Elaine. Und als soziales Lebewesen konnte der Mensch noch viel von den Tieren lernen. Selbst deren Intelligenz schien die der Menschen zu übersteigen. Obwohl es bei den Menschen weniger mit Intelligenz als mit Sucht, Gier und dem Trachten nach Erfolg zu tun hatte, dass der Mensch sich bekämpfte und letztendlich scheiterte. Nicht immer stimmte das Sprichwort „wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.“ Sie hatte niemandem eine Grube gegraben. Oder doch?

Noch war der Boden feucht und kalt. Elaine rollte deshalb ihr Iso-Kissen aus und setzte sich damit an den Rand der Wiese, um ihre Schäflein im Blick zu haben. Besonders erstaunt hatte Elaine das Wissen, dass sich Schafe über 50 Gesichter ihrer Artgenossen merken konnten und das mehrere Jahre lang. Sie konnte sich offensichtlich keine zehn Gesichter merken, nicht einmal einen Sommer lang. Dass Männer in Anzügen gekleidet alle gleich aussahen, ließ Elaine als Entschuldigung für ihren Leichtsinn und ihrer Gier nach Geld und Erfolg nicht gelten. Oder war es der Druck, sich als Frau im Beruf immer mehr beweisen zu müssen? Elaine jedenfalls wusste noch genau, was sie gerade tat, als Werner anrief und ihr einen brandheißen Tipp gab. Sie verabredeten sich zum Essen, Elaine ließ sich dieses Geschäft erklären und war Feuer und Flamme. Sofort akquirierte sie sämtliche Kunden und brachte sie dazu, in diese Papiere zu investieren. Obwohl sie im Normalzustand niemals dazu geraten hätte. Was hatte sie dazu bewogen, sich für das riskante Geschäft derart zu ereifern? Sie konnte sich diese Frage lange nicht beantworten. Wohl weil Werner es einen heißen Geheimtipp nannte. Besser und schneller sein als die anderen, das war es, was Elaine unter Beweis stellen wollte. Werner wusste genau, welchen Knopf er drücken musste. Es war der billigste Trick, auf den sie hereingefallen war und den sie selbst auch schon angewendet hatte, um unliebsame Konkurrenten auszuschalten. Einer davon war Werner, wie Elaine nun siedend heiß einfiel. Sie war in ihre eigene Grube gefallen. Sie war dümmer als ein einziges Schaf. Denn ein Hirte meint es gut mit seinen Tieren. Sie wissen das und folgen ihm deshalb. Sie würden vor schlechten Hirten wegrennen. Welcher Hirte aber nicht so klug wie ein Schaf ist, wissen die Tiere nicht. Elaine konnte sich kein Gesicht merken. Elaine war der Hirte gewesen, der den Verlockungen eines anderen Hirtens gefolgt war und ihre Anleger im Vertrauen Elaine gegenüber hinterher. Sie hatte ihre Tiere ins Verderben geführt.

„Määääh, määäh“, rief Elaine laut, als sie ihre Fehler erkannte. „Määäh. Jetzt endlich bin ich ein Schaf“, rief Elaine glücklich und sprang mit den Jungschafen auf der Wiese umher. Dass eine Familie an der Schafweide vorbeispazierte, bemerkte Elaine erst, als eine der beiden Töchter zu ihren Eltern redete. „Sie freut sich auch noch, dumm zu sein.“

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