Der Morgentau glitzerte auf den Blättern, als die ersten Sonnenstrahlen darauf trafen. Tobias liebte es, mit seinem Labrador Milo zur frühen Morgenstunde durch den Wald zu laufen. Wie von Minute zu Minute alles zum Leben erwachte, war für den jungen Mann ein besonderes Erlebnis. Jeden Tag aufs Neue. Nur heute schweiften Tobias Gedanken immer wieder ab. Während die Singdrosseln schon am Baum ihren Morgengesang zum Besten gaben und die Amseln langsam aus ihren Nachtquartieren flogen, um die Drosseln gesanglich zu unterstützen, grübelte Tobias, wie er alles bezahlen sollte, seit er vor vier Wochen seinen Job verloren hatte. Alle Bewerbungen kamen zurück. Milo schnüffelte aufgeregt den Boden ab, Tobias lief schneller, joggte dann durch den Wald, als er plötzlich in die Knie ging und vor Schmerzen aufschrie.
Er musste wohl in den Eingang eines Dachsbaus getreten sein, fluchte Tobias, der nun auf dem Boden saß und sich vor Schmerzen am Knie krümmte. Es sah nicht gut aus. Mit dem Knie war er auf einen Stein aufgekommen, wie Tobias sah, nachdem er das Laub weggewischt hatte. Er brauchte Hilfe. „Mist“, fluchte Tobias. Sein Handy hatte er nicht dabei. Das ließ er zu Hause, um die kostbaren Minuten vor Sonnenaufgang ungestört genießen zu können. Milo kam zurück, setzte sich neben seinen Herrn und tröstete ihn auf die hundeeigene Art und Weise. Mal mit der Schnauze stupsen, Pfötchen geben und solidarisch bei Tobias bleiben. Solidarität, das war es, dachte Tobias und streichelte seinen Hund, als wäre es sein Vorschlag gewesen.
Der Mensch hatte die großartige Erfindung, sich mit farblichen Schleifen und Bändern für alles Mögliche solidarisch zu zeigen. Tobias griff in seine Hosentasche und zog ein Taschentuch heraus. Ein weißes Tuch, das Zeichen für Frieden, war sicher nicht die richtige Botschaft, aber es würde auf ihn aufmerksam machen, hoffte Tobias, während er seine Jackentasche durchwühlte. Ein gelbes Tuch kam zum Vorschein. Das Tuch hatte Tobias schon vergessen. Aber er hatte es immer dabei, wenn er mit dem Motorrad unterwegs war. Hing ein gelber Schal an einem Motorrad, bedeutete das zum einen die Solidarität der Motorradfahrer, zum anderen wusste jeder, der Motorradfahrer brauchte Hilfe. Zumindest in den 60er und 70er Jahren war das bekannt. Tobias überlegte, wohin er das Tuch binden könnte. Selbst wenn er es in der Hand hielt und den Arm nach oben hielt, würde niemand seinen Hilferuf sehen. Tobias band deshalb das Tuch an Milos Halsband. „Lauf zum Weg und bleib dort“, forderte er seinen gelehrigen Hund auf.
Milo erfüllte gehorsam die Anweisung, setzte sich einen Meter vom offiziellen Weg entfernt und wartete. Worauf, wusste er selbst nicht. Dann kam der erste Waldläufer. Ebenfalls ein Jogger. Wer sonst würde um diese Uhrzeit an einem Wochenende im Wald unterwegs sein. Es schien zu funktionieren, freute sich Milo. Der Jogger sah das gelbe Tuch, blieb kurz stehen, schaute sich um und rannte dann schnell in die Richtung zurück aus der er kam. „Halt! Bitte, ich brauche Hilfe“, schrie Tobias hinterher. Doch das hörte der Jogger nicht. Milo hatte Tobias Rufe als Aufforderung betrachtet, dem Jogger zu folgen. Doch dieser schrie irgendwelche Drohungen aus, er würde den Hund erschießen und rannte noch schneller. Tobias Rufe verhallten im Wald.
„Mist“, fluchte Tobias erneut, als Milo zurückkam und sich wieder zu seinem Herrchen gesellen wollte. „Bleib dort“, forderte Tobias seinen Hund auf, was dieser ebenso brav ausführte. Vielleicht hätte er doch das weiße Taschentuch an Milo befestigen sollen, überlegte Tobias mit schmerzverzerrtem Gesicht. Kurz darauf hörte er jemanden kommen, wie er an den knackenden Geräuschen erkennen konnte. Ein Ehepaar hatte wohl beschlossen, eine Wanderung zu unternehmen, wie die Rucksäcke vermuten ließen. „Siehst du den Hund? Er hat eine gelbe Schleife“, rief die Frau aufgeregt, drehte sich auf der Stelle um und lief eilig zurück, gefolgt von ihrem Mann. So gefährlich sah Milo nun auch nicht aus, dachte Tobias, der entsetzt die Reaktion des Ehepaars beobachtete. Milo betrachtete das als Aufforderung zu einem Spiel und rannte dem Ehepaar hinterher, was die panischen Rufe der Frau verstärkte. „Milo, hier“, befahl Tobias und fingerte in der Hosentasche nach dem Taschentuch.
Mit dem gelben Tuch stimmte etwas nicht. Er musste die Farbe austauschen, sonst würde er hier nie gefunden werden, beschloss Tobias und zog das Taschentuch heraus. Durch diesen umständlichen Befreiungsakt war es zerrissen, stellte Tobias fest und biss die Zähne fest zusammen. Um den Schmerz zu verringern, um den Frust nicht in den Wald zu brüllen. Milo blickte sein Herrchen fragend an, blieb jedoch solidarisch bei ihm sitzen. „Hier saß er. Entweder er ist von zu Hause ausgerissen oder er hat sich von seinem Herrchen losgerissen. Jedenfalls ist mit dem Hund nicht gut Kirschen essen“, schimpfte die Wanderin. Sie war zurückgekommen, den Jäger als Verstärkung dabei. Dieser hatte das Gewehr schussbereit in der Hand. Da Milo nicht mehr in der Nähe des Weges saß, nahm der Jäger sein Fernglas und suchte die Umgebung ab. Tobias winkte wild herum. Der Jäger hatte ihn gesehen, wie Tobias erkannte. „Halten Sie Ihren Hund fest, ich komme nun näher“ rief der Jäger.
„Der Hund tut nichts“, antwortete Tobias, hielt Milo jedoch am Halsband fest. „Warum hat er dann ein gelbes Band um“, fragte der Jäger. „Weil ich in Not bin. Das ist das Motorradfahrerzeichen“, meinte Tobias. Der Jäger nickte. „Ihr Hund ist aber kein Motorrad. Ein gelbes Band am Hund bedeutet: Vorsicht, ich möchte, dass mir keiner zu nahe kommt“, erklärte der Jäger. Tobias lachte laut. „So schön es ist, mit Farbe Solidarität zu bekennen und auf Not aufmerksam zu machen… Doch wenn jedes Lebewesen eigene Farben hat, dann nehme ich das nächste Mal besser wieder das Handy mit“, meinte Tobias, dankbar, endlich Hilfe zu bekommen. „Letztendlich hat es trotzdem zum gewünschten Ergebnis geführt“, antwortete der Jäger, der den Krankenwagen anrief und bei Milo das gelbe Tuch entfernte. „Nicht dass die Sanitäter auch noch Reißaus nehmen.“