
Mit den Saattüten bepackt, ging Marlies in den Garten, zu der freien Fläche, die sie in ein Blumenmeer verwandeln wollte. Die Sonnenstrahlen wärmten bereits angenehm, als Marlies mit dem Rechen den Boden vorbereitete. Lange hatte sie überlegt, einfach eine Samenmischung Blumenwiese zu nehmen. Dann entschied sie sich für blau und orange. Die beiden kräftigen Farben mochte Marlies besonders gern und sie harmonierten auch, entschied Marlies. Nach Anleitung arbeitete sie nie. Einfach nach Gefühl streute sie die ersten Samen der Kornblumen ein. Das leuchtende Blau war ein Augenschmaus. Marlies freute sich jeden Sommer, wenn die Kornblumen im Garten ihrer Großmutter ihre Köpfchen im Wind wippten. Es waren vor allem die Lieblingsblumen ihrer Großmutter Anna. Als diese noch lebte.
Bei der Gartenarbeit war es Marlies als stünde ihre Oma neben ihr, so lebhaft hatte Marlies deren Erzählungen noch in Erinnerung. „Eigentlich steht die Kornblume für die Epoche der Romantik“, erklärte ihre Großmutter damals. „Als ich jung war, hatten wir kein Geld, um teure Blumensträuße zu kaufen. Wir verschenkten Wiesen- und Gartenblumen. Mein Egon hatte mir einen Kornblumenstrauß geschenkt, als er mir einen Heiratsantrag machte“, erzählte Marlies Großmutter. Marlies sah, wie ihre Oma damals bei dem Gedanken gelächelt hatte. „Er hat sie aus dem Bauerngarten seiner Eltern gepflückt. Als seine Mutter das entdeckt hatte, war der Teufel los.“ Marlies Oma hatte geschmunzelt. „Sie war verärgert, weil der Garten so nackt aussah. Das Blau war einfach zu auffällig und dieser Blickfang fehlte“, erzählte Marlies Großmutter damals. Dann räusperte sie sich. „Ich glaube, sie war nicht wegen der Blumen sauer, sondern weil Egon mir die schönen Kornblumen geschenkt hatte“, redete Marlies Großmutter weiter. „Egon sagte, die Kornblume bedeutet Zuversicht. Und das brauchten wir, war seine Mutter doch gegen unsere Heirat. Du weißt schon – evangelisch und katholisch…“
Marlies Oma war wieder in ihre Gedanken versunken, an die lange hinter ihr liegende Vergangenheit, als sie noch ein junges Mädchen war. „Nach der Hochzeit erfuhr ich, dass die Kornblume für meine Schwiegermutter ebenfalls eine besondere Bedeutung hatte. Sie bekam eine Kornblume, die am Rande eines Getreidefeldes aufging, nach Kriegsende von einem jungen Soldaten geschenkt. Meine Schwiegermutter hatte ihn beim Spaziergang getroffen und ich glaube, sie hatte sich heimlich in ihn verliebt. Als sie ihn anlächelte, schenkte er ihr diese Kornblume“, erzählte Marlies Großmutter. „Von dem Soldaten hatte sie nie wieder etwas gehört. Sie wusste nicht einmal, ob er wieder nach Frankreich zurückgekehrt war. Aber sie wusste, dass die Kornblume in Frankreich zu einer Art Symbol des Gedenkens wurde. Als Gedenken an die Opfer der beiden Weltkriege, als Symbol der Solidarität mit den Veteranen, den Witwen und den Waisen“, hatte Marlies Oma damals erzählt. Marlies drückte die Samen leicht an und bedeckte sie mit Erde. Dann goss sie das Fleckchen und hoffte, dass bald Kornblumen aus dem Boden sprießen würden. Ihre Großmutter hätte sich gefreut.
Dann nahm Marlies das nächste Tütchen und streute die Samen der Ringelblume ein. Dies waren die kräftig orangefarbigen Blumen. „Eine Ringelblume möchte ich einmal auf meinem Grab haben“, hatte ihre Oma damals gesagt. Überall in ihrem Garten lockten die Ringelblumen den Blick auf sich. Selbst die dunkelste Ecke brachte die Blume zum Leuchten. „Sie ist das Symbol für die Unvergänglichkeit“, erklärte Marlies Großmutter zu Lebzeiten. Nie hatte sie versäumt, einige Blumen abzuschneiden, Stil, Blätter und Köpfe zu zerkleinern und eine heilkräftige Salbe daraus zuzubereiten. Salben wollte Marlies nicht herstellen. Aber die beiden Blumen sollten in ihrem Garten wachsen. Für Hoffnung und Solidarität und für die Unvergänglichkeit. Eigentlich dafür, dass sich Leid, Armut und Kriege nicht wiederholten. Doch das geht vom Menschen aus und der Mensch ist keine Blume, kein Symbol….