Wer den Regenbogen sehen will

Die Einkäufe wogen heute doppelt so schwer. Den Eindruck hatte Nele, als sie ihren vollbepackten Korb in den dritten Stock trug. Es ist ihr Problem, dass sie überall mit sich herumschleppte, überlegte Nele, während sie die Lebensmittel in den Vorratsschränken verstaute. Möglichst unauffällig war sie vom Parkplatz zum Hauseingang gelaufen, an dem Hausmeister vorbei. Sie tat als sähe sie ihn nicht, als er geschäftig den Gehweg kehrte. Das machte er jeden Tag. Nicht aus Fleiß, sondern um immer über den neuesten Tratsch informiert zu sein und diesen sofort weiterzutragen. Nele blickte zum Küchenfenster hinaus, hinter der Gardine als Schutzwall. Natürlich schaute der Hausmeister hinauf, deutete sogar mit der Hand in ihre Richtung, während er eindringlich mit der alten Frau vom Stockwerk unter Nele plauderte. Als er ihre Aufmerksamkeit hatte, gestikulierte er wie jemand aus einer Flasche trank. Die ältere Frau schaute nun auch zum Fenster hoch und schüttelte den Kopf. Anita wurde sie von den Leuten genannt. Sie wirkte eigentlich immer freundlich und war eine der wenigen Menschen, die ihren Gruß freundlich erwiderte. Nele war flau im Magen. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ihre Vergangenheit ans Licht kam. Irgendjemand erfuhr es immer. Dann wurde sie gemieden, dann wurde über sie getuschelt. Nele hatte gehofft, in einem Hochhaus anonym bleiben zu können. Wäre sie ein normaler Mensch, wäre das sicher möglich. Doch sie zählte als Abschaum, wurde fast wie ein Verbrecher behandelt. Was war sie schon? Eine Mutter, der man das Kind weggenommen hat. Eine Frau, die mit anderen auf der Straße umherzog, in unsauberen Winkeln eine Flasche Wein trank, während ihr Kind zu Hause vor Hunger brüllte. Eine Säuferin und vorbestraft noch obendrein. Wie mechanisch räumte Nele ihre Einkäufe weiter ein. Dass Anita nun davon wusste und sie verurteilte, das schmerzte ein wenig. Nele hatte gehofft, hier neu anfangen zu können. Sie nahm das Foto ihrer kleinen Tochter in die Hand, lächelte das strahlende Mädchen an. Nele wusste, bei welcher Familie sie lebte und war froh, dass sie es so gut erwischt hatte. Bei der Erinnerung liefen Nele Tränen ins Gesicht. Ja, sie hatte getrunken, war dem Alkohol verfallen. Ja, sie hatte ihre Tochter vernachlässigt und sie hatte auch zwischendurch einen Flachmann mitgehen lassen. Sie wurde erwischt, sie hatte gebüßt. An dem Abend, als die Mitarbeiter des Jugendamts in ihre Wohnung kamen, ein paar Klamotten und Ellis Schmusetier einpackten, traf Nele die Wahrheit mit voller Wucht. Es schmerzte so unendlich, schmerzte heute noch. Aber es war ein heilsamer Schmerz. Der Anfang, die Sucht zu bekämpfen. Es waren harte Monate. Jeder Tag ein Kampf, das Verlangen zum Schweigen zu bringen. Einen Tag nach dem anderen zu überstehen, zu überleben. Und wie oft wurde sie in Versuchung geführt. Denn bei jedem Neuanfang kam ihre unschöne Vergangenheit ans Licht. „Möchten Sie nicht auch eine Glas mit uns trinken“, sagte so mancher mit einem ironischen Grinsen im Gesicht. Wenn sie dann ablehnte, wurde mit einem angeblich verständnisvollen „habe ich vergessen, Sie dürfen …“ geantwortet. Doch damit war die Arena freigegeben, damit war der Startschuss gefallen, dass sich andere darüber unterhielten, mit dem Finger auf sie zeigten. Verständnis heuchelten und hinter ihrem Rücken schadenfroh redeten. Drei Mal war Nele deshalb schon umgezogen. Sie ertrug es nicht mehr. Niemand konnte sich vorstellen, wie quälend lang ein Tag sein konnte. Wie schwer es war, ohne kleinen „Helfer“ die Probleme zu lösen, das Leben zu meistern. Sie war eine Verurteilte und würde es ihr Leben lang sein, wurde Nele bewusst. Der Hausmeister und Anita hatten sich getrennt. Er kehrte weiter, bis der nächste kam, dem er den neuesten Klatsch erzählen konnte. Und wie das dann ausgeschmückt werden würde. Jeder dichtet etwas dazu. Wozu sollte sie noch kämpfen? Wozu jeden Tag weitermachen? Wozu jeden Tag beweisen, dass die Vergangenheit hinter einem liegt, aber leider nicht mehr geändert werden konnte. Jede Sucht bringt die dunkle Seite der Persönlichkeit hervor. Eine Seite, von der man nie glaubte, dass sie in einem selbst schlummerte. Nele war fertig mit ihren Einkäufen. Die Wohnung war sauber. Sie hatte weder Kinder noch Tiere und am wenigsten Freunde, mit denen sie das Wochenende verbringen konnte. Sie wollte es nicht. Jede Freundschaft beinhaltete eine Versuchung, weshalb Nele sich distanzierte. Es war ihr Selbstschutz. Doch da war sie wieder, die unerträgliche Leere in ihrem Leben, die mit jedem Feierabend und besonders an jedem Wochenende in ihre Wohnung drang. Eine Leere, die zu füllen sie nicht in der Lage war. Es gab keinen Sinn mehr in ihrem Leben. Lustlos blätterte sie in einer Zeitschrift, um die Verzweiflung und das Verlangen zu unterdrücken. Es klingelte an der Wohnungstür. Verwundert stand Nele auf und öffnete. Anita lächelte sie freundlich an. Wie lange noch, dachte Nele, schluckte und begrüßte die ältere Frau, die bat, ein paar Minuten stören zu dürfen. Anita überreichte ihr einen Strauß mit kleinen Moosröschen. „Er hat es Ihnen erzählt?“, fragte Nele. Anita nickte und umarmte die ihr fremde Frau. „Ich weiß aus eigener Erfahrung, was Sie durchgemacht haben, was Sie immer noch durchmachen. Aber sich von dem Vergangenen das Leben diktieren zu lassen, ist ein schlechter Ratgeber. Besser ist, die Vergangenheit als guten Ratgeber für die Zukunft zu nehmen. Geben Sie nicht auf. Es wird auch für Sie wieder die Sonne scheinen“, meinte Anita. Nele schüttelte den Kopf. Wie sollte das funktionieren, wenn all ihre Bemühungen, ein besserer Mensch zu sein von Menschen wie dem Hausmeister oder all den anderen zunichte gemacht wurden? Von Menschen, die sich daran weideten, ihre unschöne Lebensgeschichte in die Welt zu posaunen? „Niemand wird mich dann je mögen. Jeder Neuanfang wird scheitern. Ich werde immer im Regen stehen“, sagte Nele betreten. Wieder nahm Anita die junge Frau, die hilflos wie ein Kind vor ihr stand, in den Arm. „Das musst du durchstehen. Wer einen Regenbogen sehen will, muss Regen akzeptieren. Und mach dir nicht so viele Gedanken, ob andere Menschen dich mögen. Die meisten mögen sich noch nicht einmal selbst.“

Foto: Jorge Fernández Salas on Unsplash

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