„Meridian! Komm mein Guter, komm“, lockte Dara ihren Kater, der vor der Mülltonne hervor lugte und dabei leise miaute. „Meridian, komm, heute gibt es Fisch. Das magst du doch so gerne“, meinte Dara, die ein kurzes, aber intensives „Mau“ zur Antwort erhielt. Dann sah sie nur noch Meridians Hinterpfoten. Ihr Kater rannte über die Straße und verschwand in einem Hauseingang. „So ein Mist“, schimpfte Dara und jagte ihrem Kater hinterher. Als sie in dem Eingang des mehrstöckigen Mietshauses ankam, saß Meridian vor der verschlossenen Tür im Erdgeschoss und bat maunzend um Einlass und strich mit seiner Pfote an die Tür. Dara streckte die Arme aus, um ihren Kater hochzunehmen, doch er fauchte sie an. „Was soll das?“, fragte Dara gereizt. Ihr Ärger verflog schnell als sie hinter der Tür ein heiseres Husten hörte. „Djego, da bist du wieder. Warte, ich mache gleich die Tür auf“, hörte Dara die Mieterin zwischen zwei Hustenanfällen gequält reden und schlurfte zur Tür. Dara trat beiseite, sodass die Frau sei nicht gleich sehen konnte, als sie die Wohnungstür öffnete. Meridian kuschelte sich an die Beine der Frau, die noch im Schlafanzug war und einen Morgenmantel übergezogen hatte. „Djego, mein Liebling. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Wo hast du dich den ganzen Nachmittag herumgetrieben“, flüsterte die Frau und drückte Daras Kater an die Wange. „Entschuldigen Sie, aber das ist mein Kater“, meinte Dara, die nun vor die Frau trat. „Das tut mir leid. Das wusste ich nicht. Er saß vor ein paar Tagen vor der Wohnungstür und miaute so mitleiderregend, dass ich ihn einließ und fütterte. Er war ganz ausgehungert“, erklärte die Frau. „Das kann unmöglich sein. Er bekommt regelmäßig Mahlzeiten und ist sicher nicht ausgehungert, sondern eher verfressen“, meinte Dara. „Schon gut, meine Liebe“, meinte die Frau beschwichtigend. „Ich möchte Ihnen den Kater natürlich nicht streitig machen. Er hat mir Freude bereitet und mich gut unterhalten. Seine Anwesenheit hat mir gut getan“, sagte die Frau und hustete erneut. „Ich habe niemanden mehr, seit mein Erich gestorben ist“, meinte die Frau. „Das tut mir sehr leid“, antwortete Dara und schaute verstohlen in die Wohnung. „Wenn Sie Zeit haben, würde ich mich freuen, wenn Sie mir bei einer Tasse Kaffee Gesellschaft leisten.“ Die Frau ging in ihre Wohnung zurück, gefolgt von Dara. Schwer atmend ließ sie sich in den Sessel plumpsen. „Bitte beachten Sie die Unordnung nicht. Ich fühle mich momentan nicht gut und dann bleibt der Haushalt einfach liegen“, sagte die Frau. „Bitte nennen Sie mich Gerda“, fügte sie an. Dara nickte und stellte sich vor. Für einen Augenblick sah Dara einen listigen Ausdruck in Gerdas Gesicht. Musste sie sich vor der alten Frau in acht nehmen? Unsinn, schalt sich Dara. Sie ist eine alte kranke Nachbarin, keine Schauspielerin in einem Thriller. Gerda schlürfte zur Anrichte in der Küche, wo ihre Kaffeemaschine stand und füllte Wasser ein, als sie wieder von einem Hustenanfall gebeutelt wurde. Es klang blechern, fast gekünstelt, fand Dara und schimpfte sich wieder einen Idioten, weil ihr bei der kranken Frau die Phantasie durchging. Gerda beugte sich nach vorne, bevor sie einen Löffel aus der Schublade zog, das Kaffeepulver aus der Dose zu nehmen. „Ohje. Nun habe ich zu viel versprochen. Ich habe kein Kaffeepulver mehr“, meinte Gerda bedauernd. „Das macht nichts. Ich brauche keinen Kaffee“, beschwichtigte Dara, da es der älteren Frau offensichtlich peinlich war. „Aber ich. Meinen Morgenkaffee brauche ich immer“, meinte Gerda. Sie zwinkerte, als müsste sie eine Träne unterdrücken. Dara bekam Mitleid mit der Frau. „Soll ich Ihnen schnell einen Kaffee besorgen“, bot Dara an. „Das kann ich nicht annehmen. Das wäre zu liebreizend von Ihnen“, meinte Gerda gestelzt. „Das ist doch kein Problem. Der Supermarkt ist gleich um die Ecke“, beschwichtigte Dara. Gerda suchte in der Zwischenzeit ihren Geldbeutel und kramte darin herum. „Das ist aber ganz peinlich. Ich habe kein Geld mehr da. Leider bin ich nicht zur Bank gekommen. Dieser Husten fesselt mich schon über eine Woche ans Bett.“ Zur Bestätigung fing Gerda erneut zu husten an. „Das leihe ich Ihnen gerne aus“, meinte Dara. „Würden Sie mir noch ein paar Kleinigkeiten mitbringen“, fragte Gerda schüchtern. Dara nickte mit dem Kopf. Einen Stift und Papier hatte Gerda schon griffbereit und schrieb eifrig Lebensmittel auf die Einkaufsliste. „Das ist zu nett von Ihnen, liebe Dara. Sie müssen das natürlich nicht umsonst machen. Kaufen Sie sich eine gute Schachtel Pralinen. Wenn meine Tochter nächte Woche kommt und Geld holt, werde ich Ihnen alles begleichen“, meinte Gerda. „Ich umsorge einstweilen Djego. Äh Meridian natürlich“, meinte Gerda. Meridian, wiederholte Dara in Gedanken. Hatte sie der Frau den Namen des Katers gesagt? Sie wird es gehört haben, als sie vor der Tür mit Meridian redete, dachte Dara und schloss die Haustüre. Als sie auf dem Gehsteig Richtung Supermarkt lief, lachte ein Mann und warf ihr ein „Hat die Alte sie auch dran bekommen“ hinterher. „Was wollen Sie eigentlich“, meinte Dara genervt. „Sie gehen doch für die Alte einkaufen“, vermutete der Mann. „Was geht das Sie an“, fragte Dara. „Sie gehen für sie einkaufen. Geld hat die Dame nicht, um Ihnen die Einkäufe zu bezahlen. Der angebliche Sohn, der nächste Woche alles in Ordnung bringt, den gibt es nicht und wenn sie ein paar Mal für die Dame den Haushalt und die Einkäufe besorgt haben, sucht sie sich ein anderes Opfer“, meinte der Mann. Dara blieb verunsichert stehen. Hatte sie doch den richtigen Impuls gespürt, als Gerda so listig grinste? „Sie hat keinen Sohn, sie hat eine Tochter“, erklärte Dara. Der Mann lachte, zog an seiner Pfeife und lachte wieder. „Sie werden an mich denken“, sagte er und ging wieder in den Hauseingang zurück. Den gesamten Weg zum Supermarkt ging ihr die Warnung des Mannes nicht mehr aus dem Kopf. Wenn er recht behielt? Wenn sie ihr Geld nicht mehr sah? Sei nicht gleich so misstrauisch, schimpfte sich Dara, legte die Waren auf das Laufband und bezahlte fast 50 Euro für die Einkäufe der unbekannten Nachbarin. Da sie nur Markensachen kaufte und davon nicht die billigsten, schien es der Frau doch gut zu gehen. Sie wurde schon erwartet, denn kaum war Dara an der Wohnungstür angelangt, öffnete Gerda und ließ die junge Frau hinein. „Meine Tochter ist Ärztin in Stuttgart und manchmal kann sie sich nach den anstrengenden Arbeitstagen nicht mehr aufraffen, zu mir zu fahren. Es sind junge Leute, was soll man ihnen vorwerfen“, meinte Gerda. Als würde sie finanziell gut aufgestellt sein, so sah es bei ihr nicht aus, dachte Dara, die auf Gerdas Erzählungen nur nickte. Nachdem Dara die Wohnung der älteren Frau aufgeräumt hatte, ging sie wieder nach Hause. Mit Meridian auf dem Arm. Aus der flüchtigen zufälligen Bekanntschaft entwickelte sich beinahe eine Freundschaft. Gerda konnte Geschichten erzählen und Dara herzhaft darüber lachen. „So gut habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt“, meinte Dara nach dem Kaffeeklatsch. Das war nach dem Einkaufen für Gerda fast zur Gewohnheit geworden. Doch Gerda hatte die Schulden immer noch nicht beglichen. „Gerda, es ist mir fast ein bisschen peinlich, dich darauf anzusprechen, aber ich habe dir inzwischen Einkäufe für fast 300 Euro ausgelegt und deine Tochter kommt scheinbar nicht. Es wäre doch kein Problem, wenn du mir eine Vollmacht gibst, dass ich wenigstens am Schalter für dich Geld abheben kann“, meinte Dara freundlich. Doch Gerda schüttelte den Kopf. „Das kommt überhaupt nicht in Frage. Am Ende räumst du mein Konto leer“, meinte Gerda bestimmt. „Das ist Unsinn und das weißt du. Ich kann nur den Betrag abheben, den du auf die Vollmacht schreibst“, meinte Dara. „Wenn ich mir diese Tierarztrechnung anschaue, dann bekomme ich noch Geld von dir. Völlig verwahrlost war der Kater und ich habe ihn erstmal ärztlich versorgen lassen müssen“, meinte Gerda und reichte ihr eine Rechnung entgegen. „Das ist eine unglaubliche Lüge“, meinte Dara entsetzt. „Das werde ich überprüfen und einen Anwalt einschalten“, schimpfte Dara. Gerda reichte ihr das Telefon und tippte die auf der Rechnung stehende Nummer ein. Dara hörte wie sich eine Frauenstimme mit dem auf der Rechnung angegeben Praxisnamen meldete und Gerda den Arzt verlangte. Zu ihrem Entsetzen hörte Dara noch, der Tierquälerei beschuldigt zu werden, weil das Tier in einem halb verhungerten und verwahrlosten Zustand gewesen sei. Wutentbrannt rannte Daria aus dem Haus, ihren Kater Meridian fest im Arm und rannte auf die gegenüberliegende Straßenseite zu ihrem Haus. „Ich habe sie gewarnt“, meinte der Mann, der ihr beim ersten Treffen mit Gerda fast zum Supermarkt gefolgt war. Als Antwort tippte Dara mit dem Zeigefinger an die Stirn und ging mit Meridian ins Haus. Vom Wohnzimmerfenster aus beobachtete Dara immer wieder den Hauseingang des Mietshauses in dem Gerda wohnte. Tagelang. Gerda war nicht zu sehen und Dara war in Sorge um die alte kranke Frau. Es war wohl nur ein Versehen. Ein Missverständnis. Vielleicht war Gerda in großer Not und hatte wirklich keine Angehörigen mehr, war aber zu anständig, um ihre Notlage zuzugeben und um Hilfe zu bitten, dachte Dara und beschloss, Gerda zu besuchen. Dara stand am Gehsteig, als Gerda die Wohnungstür öffnete und ein Katzenfutter vor die Tür stellte. Kurz darauf kam eine kleine rötliche Katze und schlemmte an dem Futter. Bevor die Katze den Napf geleert hatte, packte Gerda zu und holte die Katze ins Haus. Dara schüttelte ungläubig den Kopf, als sie eine Frau nach ihrer Katze rufen hörte. Gerda öffnete das Fenster und schaute hinaus. „Suchen Sie ihre Katze“, fragte Gerda. Die Frau nickte. „Sie ist bei mir. Sie hat so verhungert ausgesehen und da habe ich ihr zu Fressen gegeben. Aber sie war mir auch eine gute Gesellschaft“, sagte Gerda und bekam einen Hustenanfall. Die junge Frau betrat Gerdas Wohnung und kam zehn Minuten später mit einem Einkaufskorb wieder heraus.