Kara starrte an die weiße Zimmerdecke in ihrem Schlafzimmer. Vor drei Tagen wurde sie aus dem Krankenhaus entlassen. Doch noch immer schmerzte jede Bewegung, weshalb sie nahezu bewegungslos verharrte. Nur die Gedanken waren in Bewegung. Und diese sagten ihr seit drei Wochen, dass sie einen Unfall haben würde. Wäre ich nur zu Hause geblieben, schalt sich Kara. Doch sie tat die Warnungen als Unsinn ab, packte eine Reisetasche für den Wochenendtrip mit ihrer Freundin und startete gut gelaunt in diese Unternehmung. Warum sie von der Fahrbahn abkam, konnte sie sich nicht erklären. Aber der gesamte Unfall und das weitere Geschehen, passierten genau so wie es in ihrer Vorstellung geschehen war.
Die Ersthelfer, der Rettungswagen, sogar die Gespräche waren fast identisch mit dem Gedankenkino, das sich nach der inneren Warnung „fahr nicht, du wirst einen schweren Unfall haben“ abgespielt hatte. Nicht einmal tief durchatmen konnte Kara. Prellungen, Quetschungen, sie hatte Glück gehabt, meinten die Ärzte und betonten bei der Entlassung, wie wichtig es sei, sich langsam wieder zu bewegen. Krankengymnastik und sich etwas Gutes tun. Noch sei sie in einer Art Schockzustand. Daran dürfe sie nicht festhalten. Leicht gesagt, dachte Kara. Sie hatte für alles eine viel zu intensive Vorstellungskraft. Auch wenn es keine schönen Gedanken waren. Wie über den Unfall.
Kara starrte weiter bewegungslos an die Decke und sinnierte. Es war nicht das erste Mal, dass alle Befürchtungen, die sich daraufhin in den buntesten Farben ausgemalt hatte, auch Wirklichkeit wurden. Das begann mit den Sorgen, eine Prüfung zu vermasseln oder wenn sie befürchtete, krank zu sein. Als sie sich ausmalte, ihr Freund würde sie verlassen, traf das genauso ein. Fast identisch mit ihrer Vorstellung.
„Alles, was ich mir vorstelle, wird Wirklichkeit“, murmelte Kara. Das wäre eigentlich die Gelegenheit. Sie würde einfach ihre Vorstellungen ändern. Sie würde den Personen, die ihr Unrecht getan hatten, Schlechtes wünschen. Denn ihr Glück basierte auf ihrem Unglück, dachte Kara und fing gleich damit an. Eine Stunde hatte sie noch, dann musste sie zur Krankengymnastik. In den schillerndsten Farben malte sie sich aus, wie sie im Einkaufsmarkt die Regale durchsuchte und ihr Ex-Freund plötzlich neben ihr stand, um zu sagen, dass seine Beziehung mit der anderen gescheitert ist und er gerne wieder zu Kara wollte. Immer wieder spielte sie die Botschaft gedanklich in unterschiedlichen Szenen durch.
Als diese Szene filmreif war, ging sie gedanklich zur nächsten Kränkung über. In den lebhafteten Farben malte sie sich aus, wie diese Leute in die Grube fielen, die sie für Kara gegraben hatten. Dann stand Kara auf und zog sich an, um pünktlich in der Praxis zu sein. Doch während der Fahrt dorthin, verflog ihre erste Euphorie und ein schlechtes Gewissen stellte sich ein. Anderen Böses wünschen, das würde nicht gut ausgehen, dachte Kara. War es denn Böses?
Sie wollte nur wissen, ob alles, was sie dachte zur Realität werden würde. Du hast anderen etwas Schlechtes gewünscht, mahnte ihr Gewissen. Ich habe es mir nicht gewünscht, ich habe es mir nur vorgestellt, hielt Kara ihrem Gewissen entgegen. Außerdem, was ist schlecht für die anderen? Ist es schlecht, wenn Gerd wieder zu ihr zurückkehren würde? Wenn das schlecht wäre, hieße das im Umkehrschluss, dass sie ein schlechter Mensch wäre. Kara schüttelte energisch den Kopf. Sie hatte nichts Schlimmes getan, nur die Ungerechtigkeiten, die im Leben passieren, gerade gerückt. Wenn sie so eintreffen.
Das schlechte Gewissen blieb still, stellte Kara beruhigt fest. Nach der Krankengymnastik wollte sie in den Einkaufsmarkt gehen, zögerte jedoch, aus Angst, dass Gerd ihr begegnen würde um zu ihr zurückzukehren. Wie sie sich das in Gedanken ausgemalt hatte. Unsinn, schalt sich Kara, stieg aus und ging in den Markt. Sie stand gerade am Kühlregal und suchte ihre Joghurts aus, als sie eine vertraute Stimme hörte. „Kara, hast du dich von deinem Unfall erholt“, fragte Anne, eine Bekannte aus dem Ort. Es sei okay, antwortete Kara. „Sicher hast du schon gehört, dass Gerd heiraten wird? Die beiden erwarten Nachwuchs. Ich hoffe, das trifft dich nicht mehr so hart“, erzählte Anne.
In Karas Kopf dröhnte es. Annes Stimme klang wie aus der Ferne. Gerd wird heiraten? Diese Schnepfe? Er würde nicht zu ihr zurückkehren? So viel zu „alles, was ich denke, wird Wirklichkeit“, dachte Kara, wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Gesicht und bedauerte sich erneut über das zugestoßene Unrecht. Auch ihre anderen Vorstellungen trafen nicht ein. Es wurde der Kollege befördert, der weniger Fähigkeiten hatte, aber sich besser verstellen und verkaufen konnte. Es änderte sich nichts. Negative Gedanken hatten nur dann Kraft, wenn sie diese auf sich selbst bezog. Jemand anderen Schlechtes wünschen, damit es einem selbst besser geht, das funktionierte nicht, wurde Kara bewusst. Das hieße aber im Umkehrschluss, dass sie auf diesem Weg für sich Gutes bewirken könnte. Kara schob den Einkaufswagen ein Regal weiter und malte sich in den schönsten Farben aus, was ihr in den nächsten Tagen Gutes passieren würde.
Kara hatte es nun eilig, nach Hause zu kommen. Vielleicht lag heute ein Antwortschreiben auf ihre Bewerbung im elektronischen Briefkasten. Eilig fuhr sie den PC hoch. Tatsächlich ging eine Antwort ein. Aber nicht die erhoffte. Eine Absage. Es funktionierte nicht. Alles Schöne, was sich Kara vorstellte, traf nicht ein. Doch im E-Mail Fach war noch der Newsletter mit Sprüchen und Lebensweisheiten, den sie zu jedem Wochenanfang erhielt. Sie klickte drauf und las: „Du kannst nicht ändern, was dir widerfährt. Du kannst nur ändern, wie du damit umgehst“.
Text: Petra Malbrich