„Seidenblumen“

Kaum hatte das Zeitschriftengeschäft am Bahnhof geöffnet, liefen Larissa und Ronja zielstrebig zum Jugendmagazin. „Emmis Seidenblumen“ hieß die Rubrik Lebensberatung, die heute Larissas Frage beantworten sollte. Larissa legte drei Euro auf den Tresen und blätterte im Gehen zu Emmis Seite. „Es lohnt sich immer für die Liebe zu kämpfen!“ Larissa und Ronja schauten sich an und jubelten.

Als kleinen Bruder des Todes wird der Schlaf bezeichnet. Weil man keinen Schmerz spürt, keine Traurigkeit, keine Sorgen spürt, weil das Bewusstsein im Schlaf verloren geht. Es ist das schmerzlose, geräuschlose, gefühllose schwarze Nichts, über das der Mensch keine Kontrolle mehr hat. Das sind die ersten Gedanken, die Emmi seit ihrem schweren Unfall vor fünf Monaten jeden Tag als erstes in den Sinn kommen. Und eine Sehnsucht nach dem Schlaf, denn in dem Moment, in dem sie zu denken beginnt, trifft sie jede Regung wie eine Wucht.  Sie spürt unsägliche Schmerzen in ihren gelähmten Gliedern, der Kopf pocht im Einklang mit den Schmerzen in den Knochen und Muskeln und das Gefühlskarussell beginnt sich wieder zu drehen. So schnell, dass sie sich beinahe übergeben muss. Versuche wieder zu schlafen, rief eine Stimme in ihr. Das hast du davon, weil du nie schlafen wolltest, rief die andere Stimme. Er war es nicht wert, sagte die erste Stimme und die zweite meinte, es sei ihr Schicksal, endlich zu lernen, das Nichtänderbare hinzunehmen.

Emmi blinzelte. Welchen Sinn hatte es, die Augen geschlossen zu halten, wenn das Dunkel kein schützender Schleier mehr war? Umständlich versuchte sie ihren Körper in eine leichte Seitenlage zu bringen, um den Kopf soweit drehen zu können, dass sie die Uhrzeit am Wecker erkennen konnte. 11 Uhr. Wieder lag ein langer Tag des Dahinsiechens, der Bedeutungslosigkeit, der Sinnlosigkeit vor ihr. Emmi seufzte. Seit dem Unfall war sie vom Hals an fast vollständig gelähmt. Neben dem Wecker lagen drei Seidenblumen. Eine in zartem Orange, eine in dunklerem Blau und eine in kräftigem Rot. Die hatte ihr Daniel geschenkt, als er sie nach dem Unfall im Krankenhaus besucht hatte. Könnte Emmi ihre Hände bewegen, hätte sie die Blumen zerknüllt. Nicht einmal einen erlösenden Schrei konnte sie ausstoßen. Und doch waren es diese Blumen, die ihr das Leben erträglicher machten. Ausgerechnet die Blumen von Daniel. Er war der Grund für den Unfall.

Nein, war er nicht, sagte die eine Stimme in Emmi. Du kannst nicht loslassen, willst immer die Kontrolle besitzen, rief die andere Stimme in ihr. Sonst hättest du ausreichend geschlafen, schob die Stimme hinterher.

Emmi schloss die Augen. Der Schlaf ist der kleine Bruder des Todes. In Religion hatten sie über diesen Ausspruch des Philosophen Arthur Schopenhauer diskutiert. Oder war es in Biologie? Wahrscheinlich in beiden Fächern. Emmi war entsetzt zu erfahren, wie viele Stunden Zeit ihr im Leben fehlen, wenn sie die normalen acht Stunden am Tag schlafen würde. Und dann der Vergleich mit dem Tod. Die angebliche Angst vor dem Kontrollverlust, vor dem Loslassen. Für Emmi waren Langschläfer Verlierer, Tagträumer, Menschen, die ihr Leben vergeudeten, die nichts im Leben erreichten. Emmi trainierte sich daher an, mit wenig Schlaf auszukommen. Vier am Tag sollten reichen. Mit fatalen Folgen.

Sie war an jenem Abend zu Hause, hatte gerade Plätzchen für Weihnachten gebacken, als Daniel angerufen hatte. Er hatte traurig und mutlos geklungen, als würde er einen Ratschlag brauchen. Er wolle mit ihr reden, habe aber schon Alkohol getrunken und könne nicht mehr fahren. Ob Emmi nicht zu ihm kommen könne. Er habt ihr etwas Wichtiges mitzuteilen.

Zornig hatte Emmi ihre Schürze an den Haken gehängt, den Ofen ausgeschaltet und sich auf dem Weg zu Daniel gemacht. Gerade in der Vorweihnachtszeit war viel zu erledigen, weshalb Emmi manchmal noch weniger schlief. Irgendwie war sie stolz darauf, welche Powerfrau sie war. Sie hatte alles im Leben im Griff. Jede Aktivität war bestens geplant. Nach der Weihnachtszeit würden sie heiraten. Da passte es zeitlich am besten und im Frühjahr oder Sommer wollte Emmi nicht heiraten, da war es ihr zu heiß.

Es war der berühmte Sekundenschlaf, der Emmi von der Fahrbahn abbrachte. Was geschah, wusste sie bis heute nicht. Als sie wieder zu sich kam, lag sie im Krankenhaus, an vielen Schläuchen angeschlossen. Sie konnte atmen, aber ihren Körper nicht mehr bewegen.

Sie werden vom Hals ab gelähmt bleiben, hatte die Ärztin mit diesem professionellen mitleidigem Blick gesagt. Kurz darauf schlich Daniel durch den Türspalt, die drei Seidenblumen in der Hand.

„Echte Blumen blühen nicht mehr“, hatte er gesagt und die Blumen fest in der Hand gehalten.  

Dann hatte er ein wenig herumgedruckst und sich entschuldigt. Es täte ihm wahnsinnig leid, was ihr passiert sei. Und doch könne er nicht anders. Er könne und wolle nicht mehr mit Emmi leben, weil sie nicht nur ihr, sondern auch sein Leben unter Kontrolle habe, weil sie alles plane, in einem Dauerlauf, für den er keine Ausdauer mehr habe. Er brauche Pausen, brauche Ruhe und Erholung.

Emmi dröhnte der Kopf. Sie war zu ihm gefahren, hatte den Unfall gebaut, lag hier bis ans Ende ihres Lebens ans Bett gefesselt, weil sich Daniel von ihr trennen wollte?

Hätte er ihr das nicht am Telefon sagen können, wollte sie ihn anbrüllen. Doch es kam kein Laut über ihre Lippen. Zum ersten Mal wünschte sie sich, schlafen zu dürfen. Nichts mehr hören, denken, fühlen zu müssen. Zum ersten Mal wollte sie keine Kontrolle mehr, sondern sich vor der Realität verstecken, vor ihr flüchten.

Emmi schloss die Augen.

„Dann also…“, meinte Daniel und trat näher zu Emmi.

Sie hatte den Kopf geschüttelt, wollte von ihm kein Wort mehr hören.

„Was ist das für ein Leben, das mir noch bleibt? Das ist kein Leben“, hatte Emmi nach ein paar Sekunden geschrien.

Alles war besser gewesen als die Totenstille.

Daniel klang erleichtert. „Leben allein genügt nicht, sagte der Schmetterling. Sonnenschein, Freiheit und eine kleine Blume muss man auch haben“, sagte Daniel, legte die Seidenblumen auf den Nachttisch und schlich aus dem Krankenzimmer.

Emmi schaute noch einmal auf ihren Wecker. 11.30 Uhr. Sie sollte sich endlich ihrer Arbeit widmen und die Briefe der ratsuchenden Jugendlichen beantworten. Emmis Pflegerin kam ins Zimmer, half ihr in den Rollstuhl und schob sie an den Schreibtisch. Dieser war modern ausgestattet, sodass Emmis in ein Gerät gesprochenen Antworten automatisch am Computer getippt wurden.
Freya war voller Selbstvorwürfen, weil sie gerne ihre schlechten Gewohnheiten ablegen wollte, was nicht so schnell gelang.

„Hab Geduld in allen Dingen, vor allem aber mit dir selbst“, sagte Emmi. Die Seidenblumen hatte die Pflegerin auf Emmis Schreibtisch gelegt. Solange sie diese hatte, war der Schlaf eine Erholung, keine Flucht, kein Kontrollverlust.

Foto und Text: Copyright by Petra Malbrich

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