Die ersten Krokusse und Narzissen lugten bereits aus dem Boden. Langsam, aber beständig. Jedes Jahr nach dem Winter fand dieser Neuanfang statt. Es beeindruckte immer wieder aufs Neue, wie die Natur die dunklen Tage nutzte, um auszuruhen und um dann kraftvoll die neue Jahreszeit zu begrüßen. Das Hellgrün der Frühlingboten strahlte die meiste Lebensfreude aus, fand Jakob. Er schleppte seinen Gartenstuhl auf die Terrasse und ließ sich die wärmende Frühlingssonne in sein Gesicht scheinen. Das tat gut. Es gab Kraft. Es war immer wieder wie ein Wunder. Würde der Mensch mehr nach der Natur leben, könnte es bei ihm ähnlich sein. Jakob zuckte mit den Schultern. Im Prinzip war jeder Tag ein Neuanfang. Für einen Augenblick wischte die Frühlingssonne die Sorgenfalten aus Jakobs Gesicht. Die dunklen Gedanken wichen freudigen Aussichten. Weg die Wut auf seinen Bruder Simon, der von Geburt an auf der Sonnenseite des Lebens schien. Niemand hatte bemerkt, dass er manche Ziele mit unlauteren Mitteln erreicht hatte. Gut, dass war vielleicht etwas hoch gegriffen, aber für Jakob zählten auch Halbwahrheiten, die Simon verbreitete, zu den unlauteren Mitteln. Sein Trost: Diese Geschwisterrivalitäten gab es selbst in der Bibel. Aber soweit, Simon umzubringen, würde Jakob nicht gehen.
Ja, heute wollte Jakob wieder einen Neuanfang versuchen. Nach seinem morgendlichen Sonnenbad ging Jakob in die Küche und breitete die Zeitung aus. Das war sein zweiter Luxus am Wochenende.
Ganz groß stand es auf Seite 4: Drei Mal war Simon in den Schlagzeilen. Einmal, weil er für seinen kommunalpolitischen Einsatz ausgezeichnet worden war, ein Mal, weil er die Bezirksliga rettete, nur weil er den Trainerposten übernehmen wird und ein drittes Mal, weil er wohltätigt gespendet hatte. Jakob knüllte die Seite zusammen und warf sie in den Papierkorb. Für einen wohltätigen Zweck. Das war doch lächerlich. Die Spende geschah aus Eigennutz wie die ganze Organisation, die Simon eigens dafür gegründet hatte. Von wegen Menschen helfen in Afrika und Indien und sonstwo. Er fuhr mit seinem neuen Reisemobil in Übergröße überall hin, um zu urlauben und nur weil er ein paar Hilfsmittel, also ausgediente Kleidung, Ware und ein paar trockene Lebensmittel bei den Hilfsorganisationen vor Ort abgab, nannte er es Hilfstransport und bekam sicher finanzielle Unterstützung. Jakobs Gedanken überschlugen sich. Den Trainerposten hatte Simon übernommen? Sein Geld hatte er wohl in den falschen Verein investiert und will nun mit dieser Aktion kostenlose Publicity, was ihm wieder trefflich gelungen war. Über Simons politisches Intermezzo wollte Jakob keinen Gedanken mehr verschwenden. Welches Engagement? Simon war immer dagegen. Das machte sich gut. Er war schließlich immer in der Opposition. Da konnte man leicht Halbwahrheiten verbreiten, warum sich manche Projekte verzögerten oder nicht umgesetzt werden konnten. Die Gründe, die Simon nannte, waren leider nur zur Hälfte wahr und das fehlende Fünkchen Wahrheit hätte alles in einem anderen Licht scheinen lassen. Doch bis das überprüft und geradegestellt werden würde, hatten er und seine Mitstreiter neue Halbwahrheiten verbreitet. Simon, Simon, Simon. Jakob schüttelte den Kopf als er gedanklich mehrmals hintereinander den Namen seines Bruders nannte.
Nein. Heute würde er den abwertenden Gedanken über Simon nicht nachgeben. Heute würde er den Neuanfang wagen. Er wollte Simon besuchen. Viel zu reden hatten die beiden Brüder nicht. Es war auch besser so, denn Simon übertrieb seine Fähigkeiten und unterspielte seine Fehler. Das würde Jakob nur wieder so aufregen, dass sie streiten würden. Nur eins hatten die beiden Brüder gemeinsam, die Liebe zur Botanik und zur Sprache der Blumen. Schon jeher viel es beiden schwer, sich bei dem anderen zu entschuldigen oder um etwas zu bitten und den anderen zu loben, das ging überhaupt nicht. Nicht verbal. Dazu nutzten beide die Sprache der Blume. Als Simon den Musikwettbewerb gewonnen hatte, war Jakob wirklich stolz auf seinen Bruder. Doch diese Bewunderung hätte Jakob niemals ausgesprochen. Er war zum Ehrungsabend gefahren und hatte Simon eine Orchidee geschenkt. Simon verstand sofort und bedankte sich mit einem Schulterklopfen bei Jakob. Als Jakob nach dem Tod seiner Frau in Trauer versunken war, brachte ihm Simon eine Chrysantheme vorbei. Jakob hatte sie im Garten eingepflanzt, gleich hinter den roten und weißen Nelken, die er ebenfalls von Simon bekommen hatte. Als Dank dafür, dass Jakob ihm aufmunternd beiseite stand, als er gleich nach dem Schritt der beruflichen Selbstständigkeit Schiffbruch erlitten hatte. Jakob hatte nie an Simons Unternehmergeist und Erfolg gezweifelt. Simon hatte sich finanziell erholt und nun war er fast so gut gestellt wie Dagobert Duck. Auch Simon hatte weder Frau noch eigene Kinder. Er lebte für sein Geschäft, das wohl keinen Nachfolger haben würde. Simon war nicht mehr der Jüngste. Auch Jakob nicht, weshalb er sich an diesem sonnigen Frühlingstag nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen wollte. Nicht durch positive Meldungen über Simon. Nach dem Frühstück nahm Jakob den Blumenstrauß in die Hand. Es waren Tulpen und Narzissen, die für Neuanfang standen.
Wenige Minuten später stand er mit den Blumen von Simons Haus. Die Haushälterin öffnete, was ungewöhnlich für einen Sonntag war. Am Wochenende war Simon in der Regel allein zu Hause. Annette, so hieß Simons Haushälterin, hatte Tränen in den Augen.
„Herr Simon ist gerade verstorben“, sagte Annette. Sie wischte sich Tränen aus den Augen. Ihre Stimme klang zittrig und belegt.
„Kommen Sie doch herein“, bat Annette.
Simon verstorben? So schnell? Es gab keine Vorzeichen. Er hatte keine Krankheit. Oder doch?
„War mein Bruder krank?“, stammelte Jakob fragend.
Mit einem verneinenden Kopfschütteln beantwortete Annette Jakobs Frage.
„Simon hat wohl auf Sie gewartet, denn er hat etwas vorbereitet. Das soll ich Ihnen geben, sollte er nicht mehr hier sein“, erzählte Annette. Sie fing wieder zu weinen an.
Simon hatte auf ihn gewartet? Jakob grübelte. Nein, sie hatten kein Treffen vereinbart.
„Hier. Das soll ich Ihnen von Simon geben“, sagte Annette. Sie streckte Jakob einen Blumenstrauß entgegen. Es waren ebenfalls Tulpen. Jakob zählte die Anzahl. Es waren genau 15 Stück. 15, das bedeutete Entschuldigung, verzeih.
Jakob betrachtete den Strauß, drängte sich an der Haushälterin vorbei und lief in Simons Schlafzimmer. Er sah zufrieden aus und für eine Sekunde hatte Jakob den Eindruck Simon würde grinsen.
„Du musst einfach immer das letzte Wort haben. Daran wird sich nichts ändern“, stammelte Jakob und hob Simons Tulpenstrauß in die Höhe, bevor er schlürfend, als würde ein Zentnerlast auf ihn drücken, Simons Haus verließ. Der Tod ist auch ein Neuanfang, dachte Jakob.
Foto und Text: Petra Malbrich
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