
Sie hörte Stimmen. Vorsichtig blinzelte Irene, doch als um sie herum alles Weiß war, schloss sie die Augen schnell wieder. Viel Weiß stellte sie sich den Himmel vor. Die Engel mit ihren Flügeln. Es wäre ja schön, wenn sie in den Himmel käme, aber nicht jetzt. Ganz bestimmt nicht jetzt.
„Sie ist wach.“
Irene kannte die Stimme nicht. Kurz darauf beugte sich eine Frau über ihr Gesicht.
„Schön, dass Sie wieder bei uns sind“, sagte die Frau.
Bei uns? Wo ist dieses „Bei uns“, überlegte Irene, konnte sich die Antwort aber denken.
Wenn es nicht der Himmel ist, dann ein Krankenhaus.
„Wie lange bin ich schon hier? Weiß meine Großmutter Bescheid?“
Die Fragen sprudelten aus Irene nur so heraus. Ihr Verstand arbeitete wieder. Sie konnte sich noch daran erinnern, dass es in Strömen regnete, sie völlig durchnässt war und irgendwann das Bewusstsein verloren hatte. Kurz vor Feierabend. Ein komisches Paar war vorher noch auf der Plantage, fiel Irene noch ein.
„Seit gestern Nacht“, antworte die Frau, die sich über Irene gebeugt hatte. Sie war die Stationsschwester, die bereits unterwegs war, um die Ärztin zu informieren. Das war gut, dachte Irene, denn sie wollte nach Hause. Ihre Großmutter war bestimmt in Sorge.
Als könnte die noch anwesende Pflegerin Gedanken lesen, sagte sie zu Irene: „Ihre Großmutter ist informiert. Sie möchte kommen, sobald Sie aufgewacht sind“, sagte die Pflegerin.
Heftig schüttelte Irene den Kopf.
„Auf keinen Fall rufen Sie meine Großmutter an. Diese Frau hat schon genug durchgemacht. Sobald die Ärztin da ist, können Sie mich entlassen. Ich kann mich zu Hause ausruhen, aber meine Großmutter möchte ich nicht länger allein lassen.“
Für diese Unvernunft schien die Pflegerin kein Verständnis zu haben. Unentwegt schüttelte sie den Kopf. Irene ließ sich davon nicht beeindrucken.
„Auf keinen Fall“, rief die Ärztin, die nun zu Irene eilte. Die Pflegerin hatte sie über Irenes Vorhaben informiert.
„Sie haben eine Lungenentzündung und sollten ein paar Tage hier zur Überwachung bleiben“, sagte die Ärztin.
Irene drehte die Augen nach oben. Je nachdem wie viel freie Betten ein Krankenhaus hatte, danach richtete sich die Diagnose, hatte sie den Eindruck.
„Ich huste nicht, es sticht nicht, ich habe keine Lungenentzündung und möchte nun bitte nach Hause. Meine Großmutter wartet auf mich. Sie braucht mich“, bat Irene eindringlich.
Nachdem sie versprochen hatte, zu kommen, sobald Fieber, Husten oder Schmerzen auftraten, willigte die Ärztin in die Entlassung ein.
Irene wartete im Flur noch auf den Entlassungsbrief, als sie einen Mann mit eiligen Schritten das Schwesternzimmer betretend, sah. Sie kannte ihn. Es war der Mann, der gestern Abend einen Christbaum suchte. Was machte er hier? Sich nach ihr erkundigen? So ein Unsinn, schimpfte sich Irene. Weshalb sollte er sich nach ihr erkundigen? Er war doch nicht für ihren Zustand verantwortlich. Aber er kannte ihren Namen, konterte Irene.
„Darüber wird sich die gesamte Station freuen, Herr Wunder!“, rief die Schwester erfreut, während der Mann das Zimmer rückwärts laufend verließ und dann eine leichte Verbeugung andeutete.
Schleimer, dachte Irene. Wunder. Ingo Wunder. Der Kleinstadtkönig. Der Mann, dem fast jedes Geschäft gehörte, einschließlich der Christbaumplantage, auf der Irene aushalf. Und sie hatte sich geweigert, dem Chef einen Baum zu empfehlen. Irene schlug die Hände vors Gesicht. Zu spät. Ingo Wunder hatte sie bereits erkannt und ging einen Schritt auf sie zu.
„Wie ich hörte, sind sie gestern ohnmächtig geworden. Ihr Pflichtgefühl in Ehren, doch bei solchem Wetter warten Sie künftig in der Hütte auf Kundschaft. Niemandem ist geholfen, wenn Sie krank werden“, sagte Ingo Wunder, nickte, hob die Hand zum Gruß und verließ das Krankenhaus genauso schnell wie er gekommen war.
Wahrscheinlich hatte er jeder Station einen Weihnachtsbaum gestiftet, vermutete Irene. Kurz danach kam die Schwester, drückte ihr den Patientenbrief in die Hand und wünschte ihr alles Gute.
Als sie in der U-Bahn saß, hatte sie Zeit zum Nachdenken. Aber in ihrem Kopf blieb alles still. Oder so durcheinander, dass sie keinen geordneten Gedanken aufgreifen konnte.
Zu Hause wartete ihre Großmutter schon.
„Kind, es wäre besser gewesen, wenn du noch ein, zwei Tage in der Klinik geblieben wärst. Du sorgst dich zu viel, vor allem zu viel um mich. Ich komme zurecht, mir geht es gut“, sagte die alte Frau. Ein sanfter Tadel schwang in ihrer Stimme mit.
Irene umarmte ihre Oma und wollte mit ihr gerade in die Küche, um ein schnelles Essen zu kochen, als ihr Blick auf den Umschlag auf der Garderobe fiel. Adressiert an sie.
Schnell riss Irene den Umschlag auf und überflog die wenigen Zeilen.
„So ein mieser Hund. Ein Schauspieler ohnegleichen. Eine hinterhältige, intrigante Person, wie es sie im besten Roman nicht gibt“, schimpfte Irene.
Irenes Oma riss entsetzt die Augen weit auf. Sie wusste nicht, ob sie sich über Irenes Wortwahl schämen sollte oder über die scheinbar schlechte Nachricht ärgern sollte.
„Ingo Wunder hat mir gekündigt“, rief Irene.
„Das war abzusehen“, meinte die alte Frau trocken.
„Er war aber gerade im Krankenhaus, hat mich dort getroffen und darauf bestanden, dass ich künftig bei schlechtem Wetter in der Hütte Schutz suchen solle. Dabei wusste er, mir bereits gekündigt zu haben“, schimpfte Irene.
„In diesem Fall ist das sogar gut, denn dann kannst du dich ausruhen, was du sonst nicht tun würdest.“ Irenes Oma legte ihrer Enkelin die Arme um die Schultern und führte sie in die Küche.
„Mach dir keine Sorgen. Ich bekomme doch Rente. Das Geld reicht schon“, beruhigte die alte Frau.
Von wegen das Geld würde reichen. Nicht einmal wenn sie sich stark einschränken, was sie ohnehin schon taten, würde das Geld reichen. Seit dem Herzinfarkt hatte ihre Oma Medikamente und auch Anwendungen, die von der Kasse nicht komplett oder nicht mehr bezahlt wurden. Die Miete ist erhöht worden, Wasser, Strom und die Versicherungen sind gestiegen. Wo sollten sie noch einsparen? Mit einem Christbaum wird es dann jedenfalls nichts. Den hätte sie von Wunder bekommen. Das konnte sie nun vergessen. Aber sie würde sich das nicht bieten lassen. Morgen würde sie mit Wunder reden und sollte er die Kündigung nicht zurücknehmen, würde sie sich…. Ja, was? Einen Anwalt nehmen? Sie hatte keinen Arbeitsvertrag, hatte sozusagen schwarz gearbeitet, weil sie froh war, ein zusätzliches Einkommen zu haben. Sie sparte heimlich. Eine größere Wohnung wollte sie mieten, sollte sie ihre Schwester Luisa endlich finden.
Erschöpft ließ sich Irene in den Sessel plumpsen. Das Kreuz an der Wand stach ihr sofort ins Auge. Ja, du könntest ruhig mal ein Wunder geschehen lassen. Mir nicht immer nur Menschen mit solchen Namen schicken, die dann nur egoistisch sind, dachte Irene. Mit den Wundern war es wie mit dem Glück und dem Geld. Immer die Menschen, die schon genug davon hatten, bekamen noch mehr.
Nach wenigen Minuten stand Irene auf und ging in die Küche, um ihrer Oma zu helfen. Einen Eintopf hatte sie erwärmt. Irene schöpfte sich eine Kelle Suppe in den Teller, als es an der Haustüre klingelte.
Durch den Vorhang hindurch erkannte sie Ingo Wunder.
Was wollte er hier? Die Kündigung zurückziehen? Sich entschuldigen?
FORTSETZUNG FOLGT