Adventsgeschichte: Das Zeichen Teil 1:

Immer heftiger prasselten die Regentropfen auf das Dach. Je heftiger es auf dem Kunststoff klopfte, desto stärker regnete es. Mit verschränkten Armen suchte Irene Schutz unter dieser kleinen Überdachung an der Holzhütte auf der Tannenbaumplantage. Als Schutz vor Unwetter war die Überdachung auch gedacht, doch für diese heftigen Wassermassen war es nicht ausreichend. Irene fluchte, als ihr der Wind erneut einen Regenschauer ins Gesicht schickte. Ihre Kleidung war ohnehin schon durchnässt, die Winterjacke hing wie ein Kartoffelsack an ihr. Sie war vollkommen durchnässt. Wenn sie noch länger hier stünde, würden ihr Schwimmhäute wachsen. Von der Lungenentzündung ganz abgesehen. „Was soll das? Willst du uns wieder eine Sintflut schicken“, brüllte Irene in Himmelsrichtung. Sie schüttelte den Kopf. Komisch war es schon, dass die Menschen für so viele Ereignisse einen biblischen Vergleich im Sinn hatten. Bei unaufhörlichem Regen die Sintflut, bei lasterhaften und katastrophalen Zuständen an Sodom und Gomorra, bei dem Apfel dachte jeder an Adam und Eva, nicht an Schneewittchen, bei Brudermord an Kain und Abel  und an Weihnachten natürlich an Jesus Geburt. „WARUM ist das so?“, brüllte Irene wieder in Richtung Himmel und lachte über ihre eigene Dummheit. Wer sollte sie dort oben hören und wer sollte ihr antworten? Gott? An den sie nicht glaubte? Gott, der zwar in den Filmen, gerade in den Weihnachtsfilmen, immer für das Happy End mit viel Kitsch und Klischee sorgte, aber auch nur, damit ein bisschen Bibel in den Kassenschlagern versteckt war. Eine Bibel, die von einem Schöpfer erzählt, an den die meisten Menschen nicht mehr glaubten. Und doch wurde bei sämtlichen Ereignissen und Katastrophen an die biblischen Geschichten gedacht und Gott gerufen. „Ich rufe dich nicht. Du kannst mir gestohlen bleiben“, schrie Irene und blickte dabei wieder in den Himmel. Heißt ein Blick war eigentlich nicht möglich, da der heftige Regen die Augen sofort wieder schloss. Sie zog das Handy aus ihrer Jackentasche. Drei Stunden hatte sie noch Dienst auf der Christbaumplantage. Eigentlich war es ihr egal, ob sie jedes Wochenende hier bei den Bäumen verbrachte oder zu Hause bei ihrer langsam senil werdenden Großmutter. Auf ihre Art mochte sie ihre Großmutter und doch hatte sie keine wirkliche Beziehung zu ihr. Sie hatte zu niemandem eine Beziehung. Außer zu ihrer kleinen Schwester Luisa, fügte Irene in Gedanken hinzu. Doch sie war seit Jahren verschwunden. Seit dem Tag, als das Jugendamt bei ihnen klingelte, weil irgendein Idiot meldete, dass ihre Mutter am Bahnhof lag, völlig zugedröhnt mit Fentanyl. Dieses Schmerzmittel hatte sie nach einer OP verschrieben bekommen und war wie viele andere Menschen davon süchtig geworden. Es ist mit Heroin vergleichbar, es wirkt 80 Mal stärker als Morphium. Aber ihre Mutter hatte nicht nur diese Tabletten geschluckt, sondern auch andere Schmerzmittel. Um ihre Sucht zu befriedigen, hatte sie auch gebrauchte Fentanylpflaster gekaut oder sich die eine oder andere synthetische Droge gekauft. Meist schlief ihre Mutter, wenn sie die Tabletten oder Tropfen geschluckt hatte. Aggressiv und unleidig war sie nur, wenn keine Tabletten mehr da waren, wenn die Wirkung nachgelassen hatte und die Sucht nicht befriedigt worden war.

 Sie kamen zurecht, erinnerte sich Irene. Sie kümmerte sich um die kleine Schwester. Sie hatten zu Essen, sie besuchte die Schule, es fehlte ihnen an nichts. Bis die Dame und der Herr vom Jugendamt vor ihrer Haustüre klingelte. Es war bestimmt der Herr vom unteren Stock, der sie verpfiffen hatte. Er hatte es schon länger auf ihre Mutter abgesehen, aber einen Korb bekommen. Die Gerüchte über die Sucht waren längst nicht mehr geheim und so war es nur eine Frage der Zeit, bis das Amt bei ihnen auftauchte. Die Polizei hatte ihre Mutter am Bahnhof aufgesammelt und zum Entzug ins Krankenhaus gebracht. Luisa wurde zu Pflegeeltern gebracht, weil sie mit ihren elf Jahren noch zu jung war und ihre Oma zu alt, um das kleine lebhafte Kind, das zur Jugendliche heranwuchs, zu versorgen. Nur sie, Irene, durfte bei der Oma bleiben.

„Sag mir lieber, wo meine Schwester ist“, brüllte Irene wieder in den Himmel hinauf, nachdem sie ihr Handy wieder in die Jackentasche gesteckt hatte. Wie oft hatte sie das schon in den Himmel gebrüllt? Wie oft hatte sie den unsichtbaren Allmächtigen gebeten, ihr ein Zeichen zu geben? Gebeten, sie und ihre kleine Schwester wieder zusammenzuführen? Nichts davon geschah, außer, dass ihre Mutter noch weiter in die Drogensucht abrutschte und schließlich an einer Überdosis dieser teuflischen Tabletten verstarb. Es geschah nichts, außer dass sie die Schule abbrach, weil ihre Oma einen Herzinfarkt erlitt und nicht mehr arbeiten konnte. Der Tod ihrer Tochter, der Verlust ihrer Enkelin hatten ihr das Herz gebrochen, davon war Irene überzeugt und versprach, wenigstens Luisa zu finden, damit das Herz ihrer Oma wieder Ruhe finden konnte. Das war vor vier Jahren. Täglich hatte sie gebetet. Nichts passierte. Nur dass sie einen Gelegenheitsjob nach dem anderen annahm, um Geld für ihrer beider Leben zu verdienen.

Wie mochte Luisa nun aussehen? Bei welcher Familie kam sie unter? Hatte sie es gut? Wurde sie missbraucht und konnte sich nicht wehren? Über Pflegefamilien hörte man auch nicht immer nur Gutes. Hatten die neuen Eltern Verständnis für Luisa? Wussten sie, dass sie ihre Stofftiere zum Einschlafen brauchte? Und dass sie am liebsten einen warmen Kakao trank und eine Reiswaffel mit Joghurt mochte?

Irene schaute auf ihre Uhr. Noch eine Stunde musste sie auf der Plantage sein. Endlich ließ der Regen nach. Ein Auto hielt an. Ein Mann und seine Frau stiegen aus. Vielleicht war es auch nicht seine Frau. Sie liefen durch die Plantage, schauten sich etliche Christbäume an.

„Haben Sie auch eine Tanne, die unten weniger ausladend ist und wenn schon ausladend, dann wenigstens beidseitig?“, nörgelte die Frau, dennoch mit freundlicher Stimme.

„Wir haben, was hier ist“, antwortete Irene, mit einer Handbewegung die gesamte Plantage umfassend.

Die Frau verkniff sich ein Lächeln.

„Sind Sie nicht da, um die Kunden zu beraten?“, fragte die Frau.

„Da wären Sie mal drei Stunden früher gekommen, als es noch hell genug für eine Beratung gewesen wäre. Außerdem würde kein Christ einen Weihnachtsbaum kaufen“, schimpfte Irene.

Nun fing der Mann zu lachen an.

„Müssen Sie nicht Bäume verkaufen? Das ist doch Ihr Job oder nicht?“, fragte die Frau nun leicht genervt.

„Ich muss gar nichts, außer endlich aus den nassen Klamotten raus. Und wenn mein Chef der Meinung ist, ich MÜSSE Bäume verkaufen, dann sollte er für einen ordentlichen Unterstand sorgen“, schimpfte Irene.

Ihr war jetzt alles egal. Sie war klatschnass, fror fürchterlich und sie wollte endlich nach Hause, um sich aufzuwärmen und in trockene Kleidung zu schlüpfen.  

„Schade. Wir sind extra jetzt gekommen, weil Sie uns als gute Verkäuferin empfohlen wurden“, meinte die Frau.

Sie schaute noch ein paar Bäume an.

„Aber wenn Sie nicht verkaufen müssen und der Meinung sind, wir brauchen ohnehin keinen Baum, dann gehen wir besser wieder“, sagte die Frau und lief Richtung Auto.

„Weihnachten ist noch ein paar Tage hin. Wir kommen ein anderes Mal wieder, Irene“, sagte der Mann und lief ebenfalls zum Auto zurück.

Irene? Woher kannten sie ihren Namen? Sie hatte den Namen nicht genannt. Wer waren die beiden?

„Hallo! Warten Sie bitte“, rief Irene und rannte zum Auto. Doch bevor sie das Paar einholen konnte, waren sie schon weggefahren. Sie bogen links ab, erkannte Irene noch. Dann wurde ihr Schwarz vor den Augen. Als sie wieder zu sich kam, war es stockfinster. Sie hustete, ihr Gesicht glühte, ihre Finger zitterten. Sie schaffte es gerade noch, ihre Großmutter anzurufen, als sie wieder ohnmächtig wurde….

FORTSETZUNG FOLGT.

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