Eine Blume für jede Geschichte

Dieter war schon aufgeblüht. Er war einer der wenigen Krokusse, die in einem satten Gelb leuchteten. So lebensfreudig wie Dieter eben gewesen war. Dieter war immer fröhlich, hatte für jedes Kind ein gutes Wort und er half, wenn jemand in Schwierigkeiten war. Ungerechtigkeit konnte er nicht leiden.

Jutta war gerade eingeschult worden. Mit anderen Kindern war sie zum Bushäuschen gelaufen und der Reihe nach waren die Schultaschen in einer Schlange aufgestellt worden, während sie mit ihren Freundinnen Gummihüpfen gespielt hatte.  Aber es hatte auch Rüpel gegeben, die jüngere Kinder geärgert hatten. Das hatten sie Spaß verstanden. Einer der unliebsamen Zeitgenossen hatte immer Juttas Büchertasche aus der Reihe geworden, irgendwo hin, sodass Jutta die Tasche im Eiltempo hatte suchen musste, wenn der Bus angefahren gekommen war. Jutta hatte Tränen in den Augen, aber keinen Mut, sich gegen die älteren Jungen zu wehren. Es war Dieter, der dann die Tasche der Rüpel ebenfalls entfernt hatte und ihnen mit der Faust gedroht hatte, sollten sie noch einmal jüngere Kinder triezen.

Ein Taschentuch hatte er ihr gereicht, damit sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischen konnte. Und einen Schokoriegel, um wieder gut gelaunt zu werden. Ein bisschen hatte Jutta für Dieter geschwärmt. Er war im Dorf beliebt, weil er fröhlich und hilfsbereit gewesen war. Als er wenige Monate vor Kriegsende mit gerade einmal siebzehn Jahren eingezogen worden war, gab er zum Abschied auch Jutta die Hand und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Lass dir nicht so viel gefallen“, hatte Dieter gesagt und war mit den anderen Jugendlichen aus dem Ort zu ihrem Einsatz gefahren.

Es war das letzte, was Jutta von ihm gehört hatte. Wenige Monate später wurde erzählt, er sei gefallen. Mehr wurde ihr nicht gesagt. Sie war damals ja erst zwölf Jahre alt gewesen. Aber die Erwachsenen hatten getuschelt und geschimpft, dass die jungen Leute noch als Kanonenfutter verheizt worden war. Irgendwie wollte Jutta etwas für Dieter tun, ihm einen letzten Blumengruß schicken wollen. Da die Krokusse in der Antike als Grabblumen verwendet wurden, hatte Jutta beschlossen, ihm einen Krokus in den Garten zu pflanzen. Den leuchtend gelben, mitten in die Wiese. Diesen Krokus hatte sie Dieter genannt. Es kamen noch viele weitere Krokusse dazu und jeder Krokus hatte einen Namen.

Die alte Frau stand in ihrem Garten und überblickte das Krokus-Meer. Ihre Hände schmerzten von dem Rheuma, das durch die vergangenen feuchten Tage wieder richtig durchschlug und ihre Finger dick anschwellen ließ. Und doch war der Anblick der kleinen zarten und doch so aussagekräftigen Blumen ein gewisser Trost und Freude zugleich. Ob wirklich schon alle Krokusse blühten? Jutta wusste es nicht. Der Rasen jedenfalls war übersät von den Krokussen, die in vielen Farben blühten, meist jedoch in dem typischen blassen Violett.

Das kräftige Violett war Anna. Sie war Dieters jüngere Schwester gewesen. In den Kellern hatten sich die Dorfbewohner versteckt, als alarmiert worden war. Die Amerikaner waren in den Ort gekommen. Nur Anna hatte den Keller vorzeitig verlassen. Das taube Mädchen hatte die Warnrufe der Soldaten nicht gehört. Natürlich war sie nicht stehen geblieben. Einer der Soldaten hatte dann die Nerven verloren und geschossen. Um die beiden Geschwister herum wuchsen blass-violette Krokusse. Das waren Herbert, Helmut und Rainer. Sie waren die Rüpel von damals, aber auch Rüpel sollten nicht  als Jugendliche das Leben verlieren für einen unnützen Krieg.

Der weiße Krokus hinten am Baum heißt Monika. Sie war Juttas Kollegin, die nur wenige Jahre nach der Geburt ihrer Tochter an Brustkrebs starb. Es war einfach erschütternd gewesen. Jutta hatte damals überlegt, Monikas Tochter Nancy zu sich zu holen, denn der Vater wollte sich nicht mit einem Kind belasten. Welche Frau würde das Kind einer anderen aufziehen wollen? Juttas Ehemann Karl war dagegen gewesen, so war Nancy ins Heim gekommen und das Leben für diese Kinder ohne Mentor war ein Albtraum gewesen. Bis heute weiß niemand, ob sie sich das Leben genommen hatte oder ob sie an der Behandlung gestorben war. Wie Jahre später aufgedeckt wurde, waren an den Waisenkindern Medikamentenversuche durchgeführt worden.

Karl war ebenfalls ein blass-violetter Krokus. Karl war Juttas Ehemann. Er war ein guter Mann, nur etwas langweilig und blass. Nicht deshalb hatte er keinen besonders farbigen Krokus bekommen, sondern weil Jutta bis heute litt, dass sie Nancy wegen Karl nicht zu sich geholt hatte.

Fast so blau wie ein Enzian war Ramona. Sie war eine besondere Frau gewesen und sollte deshalb ein besonders schöner Krokus sein. Ramona war irgendwann einfach an Juttas Seite. Als Flüchtling war sie einst ins Dorf gekommen. In den Nachkriegsjahren hatten Ramonas Eltern beschlossen, in dem Dorf zu bleiben und dort beruflich Fuß zu fassen. Es ging ja wieder aufwärts, die Jahre des Wirtschaftswunders standen vor der Tür. Ramona hatte Schreibmaschine und Steno gelernt und hatte als Gerichtsschreiberin eine Anstellung erhalten. Von ihrem Verdienst hatte sie sich das Häuschen in der Nähe von Juttas gekauft. Ramona war die Nachbarin, die immer Zeit gefunden hatte. Sie hatte gespürt, wenn Jutta traurig war, sie hatte einen Kuchen gebacken und hatte Jutta zu einem Kaffeeplausch eingeladen und ohne ein Wort zu sagen, hatte Ramona Juttas Hausarbeiten erledigt, wenn diese krank war. Ramona hatte für jedes Problem eine Lösung und konnte mit einfachen Worten Heiterkeit verbreiten, wo vorher die Sorgen drückten. Davon hatte Jutta genug. Aber an Ramonas Seite schien nichts nicht lösbar gewesen zu sein. Von ihren eigenen Sorgen hatte Ramona nie erzählt und Jutta wäre nie auf die Idee gekommen, dass auch die gleichaltrige Frau von Problemen geplagt worden war. Viel hatten die beiden Frauen unternommen, waren ins Kino gegangen und hatten sich zu einem Einkaufsbummel getroffen. Ramona war nie verheiratet gewesen. Erst nach ihrem Tod vor sieben Jahren hatte Jutta erfahren, dass Ramona Frauen liebte. Das still für sich zu behalten, musste ihr viel Kraft gekostet haben, überlegte Jutta, während sie den enzianblauen Krokus betrachtete und Ramonas herzliches Lachen vor sich sah.

Die anderen Krokusse waren Margitta, Elisabeth und Karin. Das wären Juttas Töchter gewesen. Zwei von ihnen hatten das Licht der Welt nie erblickt und Margitta war mit zwanzig an einem Gehirntumor gestorben. Ihr Mädchen hatte so Angst davor und Jutta konnte kaum etwas tun, als sie liebevoll in den Arm zu nehmen, zu pflegen und zu trösten. Diese Ohnmacht raubte ihr heute noch fast den Atem.

Mit Margitta hatte sie weitere Krokusse gepflanzt. Das Blütenmeer im Frühling hatte der jungen Frau Trost gegeben. Der Krokus war die Blume der ewigen Jugend, aber auch ein Symbol für die Ewigkeit.

Auf ihren Stock gestützt lief Jutta zur Mitte des Gartens und pflanzte einen weißen Krokus neben Margitta. Der neue Krokus würde Jutta heißen. Die inzwischen 91-jährige Frau spürte, dass ihre Zeit gekommen war. Nächstes Jahr würde auch sie wieder blühen und die Blume würde ihre Lebensgeschichte erzählen. Ein Leben voller Entbehrungen, Enttäuschungen, Selbstvorwürfen, aber auch ein Leben voller guter Erinnerungen, festgehalten in jedem Krokus im Garten. Denn jeder Krokus hatte einen Namen und stand für jede einzigartige Geschichte.

Foto und Text: Petra Malbrich

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