
Hatte sie wirklich erst eine Stunde geschlafen? Monika kam es wie eine Ewigkeit vor, doch der Blick auf die Leuchtziffern ihres Weckers bestätigten eine Stunde Schlaf. Monika setzte sich auf die Bettkante, überlegte kurz, ob sie aufstehen oder sich wieder hinlegen sollte. Sie stand auf, zog ihren Morgenmantel über, öffnete die Haustür und setze sich auf die Bank gleich rechts daneben. Diese Bank war der Wunsch, den ihr Herbert gleich erfüllt hatte, nachdem sie in das Haus eingezogen waren. Auf der Bank saß Monika oft. Wenn sie nachdenken wollte, wenn sie ausruhen und die Landschaft genießen wollte und wenn sie ihren Lufthunger stillen wollte, so wie jetzt.
Es war stockfinstere Nacht. Die Straßenbeleuchtung wurde um ein Uhr ausgeschaltet, um Lichtverschmutzung zu vermeiden und Strom zu sparen. Monika zog den Mantel enger um sich und wünschte, der Platz wäre besser ausgeleuchtet, denn mit der Dunkelheit kamen dunkle Gedanken. Wie es Herbert wohl erging? Dort unten in seinem feuchten Grab? Wie soll es ihm ergehen, schalt sich Monika und spürte bereits das unangenehme Ziehen im Bauch. Die Angst breitete sich aus. Vorgestern hatten sie Markus beerdigt. Er war so alt wie Herbert. Auch Inge war schon unter der Erde. Der Kahlschlag erfolgte nun in ihrer Generation, wusste Monika und zuckte, als es im Gebüsch am Zaun entlang raschelte. Erst gestern hatte sie in der Zeitung gelesen, dass wieder Einbrüche verübt wurden. Kamen die Täter nun zu ihr? Monika wollte schon aufspringen und ins Haus laufen, als ein Igel sich als Geräuschverursacher zu bekennen gab. Für einen kurzen Moment war sie von ihren düsteren Gedanken abgelenkt. Sogar ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie den stacheligen Gartenfreund tappen sah.
Eigentlich wollte sie vor Herbert sterben. Eigentlich wollte sie überhaupt nicht sterben, murmelte Monika und musste an Albert denken. Der Schulfreund wohnte nur ein paar Häuser weiter. Er dachte bestimmt genauso, überlegte Monika, denn Albert quälte sich jeden Morgen um 5 Uhr aus dem Haus, um seine Joggingrunde zu drehen. Sportlich und beweglich wollte er bleiben, hatte er Monika erklärt, als sie ihn schmunzelnd darauf angesprochen hatte.
Mit einem Ruck fuhr Monika auf, war sie doch tatsächlich auf der Bank eingeschlafen. Der Himmel war immer noch dunkel, doch stellenweise brach Licht hindurch. Die einen beendeten die Nacht, die anderen den Tag. Michael bereitete sich auf die Frühschicht vor, während nebenan wurde ein Fenster gekippt. Es war das Zimmer des Nachbarjungen Frederik. Er war ein Nachtschwärmer, war sicher noch nicht lange nach Hause gekommen. An den Farbenspielen an der Wand sah Monika, dass er noch Fernsehen schaute. Wenn das seine Eltern wüssten, kicherte Monika. Die beiden fanden in jeder Suppe ein Haar, fanden selten ein gutes Wort. Der eine Dorfbewohner sei zu unordentlich, der andere zu laut, wieder ein anderer zu dumm… Sie erteilten ungebeten Ratschläge, wie der Mensch am besten zu leben hatte und seltsamerweise war das immer zu deren Vorteil. Mit anderen Worten: Sie waren Egoisten, die das nur gut verkaufen konnte, ohne als Nutznießer entlarvt zu werden. Monika kicherte, weil ihre Strategie beim eigenen Sohn nicht funktionierte. Man konnte auch sagen, er machte ihnen einen Strich durch die Rechnung und outete seine Eltern.
Obwohl Monika hundemüde war und sich ihre Augenlider bleischwer anfühlten, konnte sie noch immer nicht schlafen. Es machte wenig Sinn, ins Haus zu gehen, weshalb Monika beschloss, weiterhin auf ihrer Bank das Ende der Nacht abzuwarten. Da war es wieder: Das Wort Nacht. Dahinter versteckt die Dunkelheit, der Auslöser für das dumpfe unschöne Gefühl, das sich von ihrem Bauch über den gesamten Körper erstreckte. Es war die Angst. Die Angst vor dem Ende des Lebens. Monika wusste nicht, wo all die Jahre geblieben waren. Sollte sie wirklich schon alt sein? Sie fühlte sich im Kopf und in den Gefühlen so jung wie Frederik. Nur der Körper wollte nicht mehr mithalten. Mit Albert konnte sie nicht mithalten. Musste sie die Erde deshalb früher verlassen?
Monika fröstelte. Sie zog den Mantel wieder enger, doch kurz darauf hatte sie Schweißausbrüche. Kündigte sich so ein Herzinfarkt an? Ein Schlaganfall? Niemand wäre hier, um ihr zu helfen. Außer Frederik, wenn er noch lange genug wach bliebe. Zitternd zählte Monika ihren Puls. Er war viel zu hoch. Sie versuchte ruhig zu bleiben, flüsterte sich selbst Mut machende Sätze zu und atmete tief ein.
Die erwünschte Wirkung trat ein. Monika beruhigte sich, lehnte sich zurück und starrte in den Himmel. Aus dem Schwarz war ein intensives Blau geworden. Noch sah es ein wenig wie Dunkelblau aus. Aber nicht mehr bedrohlich, eher beruhigend. Die Nacht war beendet, das Schlimmste war vorbei. Erleichtert seufzte Monika, als die erste Amsel mit ihrem typischen Gesang von ihrer Anwesenheit erzählte. Die Vögel würden Hunger haben überlegte Monika und füllte die Futterbehälter auf.
Der Himmel war nun hellblau, zeigte mit der Farbe den neuen Tag. Monika war nach der durchwachten Nacht hundemüde. Noch bevor sie aufstand, um ins Haus zu gehen, joggte Albert vorbei. „Du wirst trotzdem sterben“, begrüßte Monika den früheren Schulfreund angriffslustig.
Albert unterbrach seinen Dauerlauf. Er keuchte. „Und du? Dich plagen doch dieselben Gespenster oder warum verbringst du die Nacht vor der Haustür?“, fragte Albert ernst.
„Welche Nacht? Selbst das Dunkel ist voll Leben“, sagte Monika und nickte. Diese Nacht würde sie in ihrem Bett gut schlafen können, wusste Monika, lächelte und ließ Albert keuchend am Gartenzaun stehen.
Foto und Text: Copyright Petra Malbrich
#Frankengedanken #Dämmerung #Kurzgeschichte #Angst #Petra Malbrich Gschichten und Gschichtla